Wie ich Rabbinerin wurde
fortlebt?
Beim nächsten Treffen zeige ich Israel-Meir meinen Stammbaum und füge hinzu, dass er mich nie wieder fragen möge, warum ich rabbinische Literatur lernen wolle. Israel-Meir ist nun auch aufgeregt und liest mir aus dem Talmud autobiographische Angaben vor, die Natanel Weill seinem Kommentar vorangeschickt hat. Dann wird er plötzlich ernst und sieht mich fast ein wenig streng an: »Du hast die rabbinischen Gene deines Vorfahren geerbt. Du musst unbedingt weitermachen – und selber Rabbinerin werden.«
Insgeheim habe auch ich angefangen, mich mit dieser Vorstellung auseinanderzusetzen. Vor Jahren habe ich schon einmal Jonathan Magonet angesprochen, den Rektor des
Leo Baeck College
in London, das Rabbiner und Rabbinerinnen für dasReformjudentum ausbildet. Ich frage ihn, was er mir empfehlen würde, um das jüdische Leben in Deutschland aus seiner Erstarrung zu lösen. Statt mir eine Antwort zu geben, fragt er mich, warum ich nicht selbst Rabbinerin werden wolle. Aber das würde bedeuteten, mehrere Jahre am
Leo Baeck College
in London zu studieren. Ich will nicht mehr ganztägig Studentin sein, ich will aus meinem Berufsleben nicht aussteigen, und ich will auch Berlin nicht verlassen. So verfolge ich die Frage nicht weiter.
Parallel zu meiner Arbeit in der Gemeinde schreibe ich abends das Buch über Regina Jonas. Durch sie lerne ich alle
halachischen
Argumente zugunsten von Frauen im Rabbineramt. Zusätzlich zur Edition von »Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?« zeichne ich in einer Biographie Regina Jonas’ Leben nach und korrespondiere mit etwa 40 Zeitzeugen weltweit. Sie haben auf meine Anzeigen in deutsch-jüdischen Emigrantenzeitungen reagiert, in denen ich Menschen suche, die Regina Jonas in den 20er und 30er Jahren erlebt haben. Ich bewege mich nicht nur ganz in Jonas’ geistiger Welt, sondern auch auf den Spuren der Orte, an denen sie gelebt und gewirkt hat. Meine vorübergehende Überidentifikation, die ich als ihre Biografin brauche, führt zu fortwährenden inneren Gesprächen mit ihr. Dabei nehme ich auch eine neue Verantwortung wahr – es gibt nicht viele Juden in meinem Alter in Deutschland, die sich derart intensiv auf die rabbinische Literatur einlassen. Ohne Regina Jonas wäre ich geistig nie so weit gekommen. Mitunter ist mir jedoch, als würde sie mehr von mir erwarten als allein die Edition ihrer Streitschrift.
Und du? Könntest du nicht auch das rabbinische Amt bekleiden?
Seit das Buch über Regina Jonas im Herbst 1998 erschienen ist, stellen mich auch andere vor diese Frage. Rabbiner Levinson, der mich bei der Verwirklichung des Buchprojektes unterstützt hat, meint bei einem Berlinbesuch, dass es jetzt Zeit für mich sei, den Schritt zu tun. Der einstige orthodoxe Gemeinderabbiner Moshe Dick, zu dem ich noch Kontakt halte, ermuntertmich ebenfalls. Aus San Francisco bearbeitet mich Rabbiner Ted Alexander, der mit Regina Jonas zusammen in den 30er Jahren die Synagoge Rykestraße besucht hat. Wenn amerikanische Gäste in die Synagoge Oranienburger Straße kommen und ich dort den Tora-Wochenabschnitt auslege und
lejne
, werde ich bisweilen gefragt: »Are you the rabbi here?«
Aber wie könnte ich Rabbinerin werden? Ich bin 36 Jahre alt – stehe voll im Berufsleben, kann es mir nicht leisten, auf ein Einkommen zu verzichten, brauche außerdem die tägliche Herausforderung, mich beruflich zu bewähren. Ich weiß nicht einmal, ob ich ausreichend religiös bin, um Rabbinerin zu sein. Halte ich die
Halacha
? Bin ich
Schomeret Schabbat
? Lebe ich
koscher
? Spreche ich die Gebete? Wenn ich ehrlich bin, kann ich auf diese Fragen nicht mit einem klaren Ja antworten. Zugleich frage ich mich, ob ich die erforderlichen sozialen und seelsorgerischen Fähigkeiten besitze, ob ich Verantwortung für andere Menschen und auch für die Kontinuität der jüdischen Tradition tragen könnte. Es ist ein Unterschied, ob ich als inspirierte Einzelperson eine anregende
Drascha
im Schabbat-Gottesdienst halte oder als »Lehrerin in Israel« in der fortgesetzten Verantwortung stehe, den Boden für das Ganze zu bereiten.
1999 kommen Rabbinerin Marcia Prager und Kantor Jack Kessler zum zweiten Mal aus Philadelphia nach Berlin, um bei den Jüdischen Kulturtagen aufzutreten. Bereits beim letzten Mal haben sie einen Gottesdienst in der Synagoge Oranienburger Straße geleitet, den ich maßgeblich mit vorbereite. In der Zwischenzeit wird bekannt, dass Andreas Nachama eine
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