Wie ich Rabbinerin wurde
ein politisch aktives Vorleben, manche sind politische Flüchtlinge. Sie eint eine Vorstellung von Judentum, in der die Religion an eigenständiges Denken geknüpft ist. Deshalb ist es nicht erstaunlich und dennoch immer wieder spannend zu erleben, wie der geistige Horizont dieser höchst unterschiedlichen Juden im
Egalitären Minjan
selbstverständlich auch dasErbe Rosenzweigs und Adornos einbezieht – wie er sich bewusst in die Tradition des liberalen Judentums in Deutschland stellt und die einstigen großen Namen Frankfurts – Reformrabbiner wie Caesar Seligmann oder Georg Salzberger – hochhält, aber eben auch den Begründer der modernen Orthodoxie, Samson Raphael Hirsch – schätzen kann.
Bei meiner ersten Begegnung, am Vorabend des zehnjährigen Jubiläums, bat man mich spontan um eine
Drascha
(Tora-Auslegung). Ich sprach über die verschiedenen Versionen der Zehn Gebote in der Tora (Ex. 20, Dt. 5) – über die Mehrstimmigkeit des göttlichen Wortes, selbst bei so etwas Fundamentalem wie den Zehn Geboten. Diese Mehrstimmigkeit sei die Voraussetzung für ein Judentum, das sich nicht in der Tora selbst begründet, sondern erst in der Auseinandersetzung mit den Fragen, die die Tora aufwirft.
Im Gottesdienst am darauffolgenden Morgen deutete ich das Wort »heilig« –
kadosch
: nicht als »abgesondert«, »erhaben« oder »entrückt«, sondern als einen politischen Begriff. Eine Gemeinde werde eine »heilige« Gemeinde, indem sie eine bestimmte Qualität erreiche, von der man will, dass die in ihr wirkende Kraft die Gesellschaft politisch gestaltet. Die Tora nenne die religiösen Vorbedingungen für diese politische Qualität – Vorbedingungen, die zwar in einer anderen, archaischen Gesellschaft formuliert worden waren, deren sozialethisches Grundverständnis und Verantwortungsbewusstsein aber in der Gegenwart immer noch gültig sind. An der gespannten Aufmerksamkeit spürte ich eine mir bis dahin unbekannte und fruchtbare Aufgeschlossenheit. Noch im selben Jahr lud mich der
Egalitäre Minjan
ein, die Hohen Feiertage –
Rosch Haschana
(das jüdische Neujahrsfest) und
Jom Kippur
(den großen Sühnetag) – zu leiten. Zusammen mit Daniel Kempin, der damals schon der Kantor der Gruppe war, gestaltete ich die Gottesdienste. Ich machte dabei die Erfahrung, eine Gemeinde religiös tragen und sie in den religiösen Höhepunkt des Jahres führen zu können, ohne selber das leiseste Moment von innerer Entfremdung zu verspüren. Im Gegenteil. Die Feiertage desJahres 5765 (2004) wurden mir zu einem kathartischen Erlebnis, und offenbar war dies ein Moment von Gegenseitigkeit. Es lag an dem besonderen religiösen Geist des Frankfurter
Egalitären Minjan
, der Bereitschaft seiner Mitglieder, neue Brücken zwischen Judentum und Wirklichkeit zu schlagen und damit den Weg einer innerjüdischen religiösen Erneuerung zu gehen.
Im Anschluss erhielt ich das Angebot, von nun an regelmäßig nach Frankfurt zu kommen, um in »Lern-Wochenenden« Gottesdienste zu leiten und jüdisches Wissen auf eine Weise zu vermitteln, die das Spirituelle mit dem Intellektuellen und das Religiöse mit dem Politischen verbindet. Von da an war ich fest mit dem
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verbunden. Die Einheitsgemeinde, die die Gruppe finanziell unterstützte, finanzierte auch meine Besuche. Zunächst kam ich alle zwei Monate ein Wochenende lang, dann jeden Monat, und im Jahre 2009 wurde ich offiziell die Rabbinerin des
Egalitären Minjan
in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main.
Ich bemühte mich um einen Gottesdienst-Stil, der zu berühren und zu bewegen vermochte, aber auch zu Erkenntnis führte und zugleich ein Maximum an Mitbeteiligung erlaubte. Darüber hinaus hielt ich ungezählte
Draschot
, die immer wieder Zündstoff für Diskussionen boten. In entsprechenden
Schiurim
über die Struktur, Inhalte und historischen Hintergründe der Liturgie versuchte ich möglichst viele
Minjan
-Mitglieder zu befähigen, die Schabbat-Gottesdienste aktiv mitzugestalten. Mehreren brachte ich bei, wie man die Tora
lejnt
– sie in einem speziellen Sprechgesang vorträgt. Wer heute die Gottesdienste des
Minjan
besucht, muss einfach beeindruckt sein von dem hohen Maß an Partizipation aller Anwesenden. Die Grundlagen hierfür wurden damals gelegt.
Zugleich hielt ich
Schiurim
zu rabbinischem Schrifttum im Lichte heutiger gesellschaftspolitischer Fragestellungen. Mein Anspruch ging stets in die Richtung, Religion und Politik in eine neue Beziehung zueinander
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