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Wie immer Chefsache

Wie immer Chefsache

Titel: Wie immer Chefsache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Ruetter
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schlug es auf und starrte einige Sekunden auf die beschriebenen Seiten, während sein Kopf langsam dunkelrot anschwoll. Um Himmels willen, was war los? Warum stand Dölls Kopf kurz vor der Detonation? Hatte er die falsche Schrift erkannt? War Tante Gerlinde des Französischen vielleicht gar nicht mächtig? Der Französischlehrer klappte das Heft zusammen, und einen Augenblick lang dachte Mattes, er würde es ihm um die Ohren schlagen. Stattdessen knallte er es auf das Lehrerpult und brüllte ihn zusammen. Es war schrecklich. Und das Schlimmste war, dass er keine Ahnung hatte, warum dieses Unglück über ihn hereinbrach. Am Ende wurde ihm das Heft in die Hand gedrückt und er mit dem Hinweis, dass ein Brief an seine Eltern folgen würde, auf seinen Platz geschickt. Minutenlang traute er sich nicht, die Seiten aufzuschlagen, um nachzusehen, was den Wutanfall ausgelöst hatte.
    »Was ist denn los?«, flüsterte Alex, der neben ihm saß. Wenn er das nur wüsste!
    Als der Unterricht weiterlief, ging er endlich mit dem Finger zwischen die Seiten, hob sie vorsichtig ein Stück an und starrte auf Tante Gerlindes Werk. In der ersten Reihe stand sauber und vorbildlich »quatre-vingt-dix-sept«, und zwar in täuschend echter, quasi originaler Mattes-Reuter-Schrift. Darunter 249 Mal, über sechs Seiten gehend, jeweils zwei schmale Striche als Wiederholungszeichen. Dass es kein Zufall war oder von Tante Gerlinde unwissentlich falsch gemacht worden war, merkte er, als er auf dem Rückweg von der Schule bei ihr vorbeiging.
    »Na? Strafarbeit gezeigt?«, lachte sie vergnügt und schlug sich auf die Schenkel. »Da habt ihr Augen gemacht, was?« Sie empfand es als gelungenen Streich, über den sie herzlich und ohne jede Spur eines schlechten Gewissens lachen konnte. Mattes wusste seitdem, dass ihm seine Familie immer helfen würde, dass er aber ganz genau darauf achten musste, ob ihn diese Hilfe nicht noch viel weiter in die Scheiße ritt. Blind verlassen konnte er sich auf niemanden.
    Aber Tante Gerlindes Scherze trafen nicht nur Mattes. Noch schlimmer traf es ihren zukünftigen Schwiegersohn, den sie mit selbst gebranntem Schnaps im Partykeller abfüllte, dann wartete, bis er auf der Gartenbank vor dem Haus eingeschlafen war, um anschließend die Polizei zu rufen. Die weckte den vermeintlichen Landstreicher und Trunkenbold, der natürlich mit schwerer Zunge behauptete, dass er quasi schon zur Familie gehöre. Glaubhaft beteuerte Tante Gerlinde: »Den kenne ich nicht« und bat die Beamten, den Typen aus ihrem Vorgarten zu entsorgen und mitzunehmen. Als er von den Polizisten ins Auto verfrachtet worden und mit ihnen weggefahren war, hatte sie sich sofort ans Telefon gehängt und triumphierend, unterbrochen von dröhnenden Lachanfällen, vom neuesten Coup erzählt. Und es war nicht so, dass sie ihren angehenden Schwiegersohn nicht mochte, im Gegenteil. Sie wollte ihn nur schon mal dran gewöhnen, wie es in ihrer Nähe ablief.
    Genau bei dieser Tante Gerlinde lebte der unerzogene Snoopy. Mattes hatte immer den Eindruck gehabt, dass seine zupackende, laute und mit beiden Beinen auf der Erde stehende Tante den Hund eher zufällig bekommen hatte und er ihr nicht sehr am Herzen lag. Er war da, aber irgendwann würde er von einem seiner Ausflüge nicht mehr zurückkommen und sie würde sich einen neuen Hund anschaffen. Tante Gerlinde würde so etwas leicht nehmen, weil sie emotional nicht an Snoopy hing, dachte er lange. Hauptsache, ihr Leben war laut und lustig. Doch dann war Mattes eines Tages ganz nah dabei, als sie alles riskierte, um ihren Hund zu retten.
    Er war damals zwölf und verbrachte gerade ein paar Ferientage auf dem Binnenschiff von Onkel Herbert, der neben seiner Frau fast wortkarg wirkte, ihre temperamentvolle Art aber sehr schätzte. Wenn es ihm zu viel wurde, sagte er das mit klaren Worten, und erstaunlicherweise hörte Tante Gerlinde dann auf ihn. Zusammen mit Gerlinde war natürlich auch der Hund an Bord. Bei einem Anlegemanöver wollte sie, wie schon so oft, einfach mit einem großen Schritt vom Schiff auf die Hafenmauer gelangen. Onkel Herberts Matrose hatte die Reibhölzer, die zum Schutz des Schiffes an den Rand gehängt wurden, schon ausgelegt, aber auf die für den Übergang vorgesehene kleine Brücke zu warten dauerte Tante Gerlinde zu lange. Unter dem einen Arm ihre Handtasche, in der sich 500 Mark befanden, die sie zur Bank bringen wollte, unter dem anderen ihren Hund, machte sie einen Schritt auf die Hafenmauer

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