Wie Jakob die Zeit verlor
Radio gehört. Es war meist ein hastiges Frühstück: eine Tasse Kaffee, dazu eine Banane oder ein Keks, keiner von beiden hatte in der Woche Zeit, Butter und Marmelade auf ein Brötchen zu streichen, ein Ei zu kochen oder Müsli zuzubereiten. Auch Philip hat Arne in den wenigen Tagen, die er mit ihm verbracht hat, morgens Gesellschaft geleistet, hat mit angezogenen Beinen halbnackt auf dem Stuhl gehockt, schon auf nüchternen Magen zum Kaffee eine Zigarette geraucht und verschlafen gegähnt, bevor er sich wieder ins Bett gelegt hat, während Arne zur Arbeit gefahren ist. Weder Jakob noch Philip haben um diese Uhrzeit viel geredet, aber Arne hat ihre Anwesenheit vermisst, als er am Morgen allein in der Küche saß. Als wäre ihm über Nacht ein Fuß oder ein Arm abhanden gekommen.
Im Büro hat er seine Sekretärin angefahren, weil sie versehentlich die E-Mail eines Geschäftskunden gelöscht hat, hat sie eine „dumme Gans“ genannt und sich noch nicht einmal entschuldigt, als sie in Tränen ausgebrochen ist. Während der Mittagspause hat er in der Kantine einen Streit mit dem Küchenpersonal angefangen, weil das Gemüse zu seinem Schnitzel zerkocht war und im Mund zu einem unangenehmen Brei zerfiel, und am späten Nachmittag, auf der Rückfahrt zu seinem trostlosen Apartment, hat er lauthals geflucht, als ein alter Mann mit einem Rollator im Zeitlupentempo den Zebrastreifen überquert hat, sodass er die grüne Ampelphase verpasst hat. Er hat sogar den Motor aufheulen lassen, nur um den Rentner zu erschrecken, und erst, als er den ängstlichen Gesichtsausdruck des Mannes gesehen hat, ist er zur Besinnung gekommen.
Wieder zu Hause – soweit man die Wohnung mit ihren kahlen Wänden und den Räumen voller Einsamkeit überhaupt ein Zuhause nennen kann – ist er unter die Dusche gesprungen, hat Wasser über seinen Körper laufen lassen, so heiß wie möglich, bis sich seine Haut rot gefärbt hat. Mit der Faust hat er gegen die Fliesen geschlagen, hat „Scheiße!“ und „Verdammt!“ gebrüllt, bis die Wut sich wenigstens zum Teil entladen hat.
Aber es ist nicht genug. Noch immer ist er zornig, selbst ein Tee und ein wenig klassische Musik auf seinem MP3-Player haben ihn nicht beruhigen können. So kann es nicht weitergehen. Vor seinen eigenen Augen verwandelt er sich in etwas, das er nie hat werden wollen: in einen verbitterten, alten Mann, der mit seinem Schicksal hadert, ohne jedoch den Mut aufzubringen, etwas zu ändern.
Er hat keine Ahnung, woher diese Wut stammt. Seit seiner Trennung von Jakob hat sie sich in seinem Inneren aufgestaut, wie das Wasser eines künstlichen Rückhaltebeckens, das von der Schneeschmelze in den Bergen gespeist wird und an den gestampften Wänden emporklettert, bis es überläuft, erst in kleinen Rinnsalen, dann immer kraftvoller, und schließlich mit einem mächtigen, nicht mehr aufzuhaltenden Schwall die Dämme durchbricht und alles, was ihm im Weg steht, mitreißt und verschlingt.
Er hat es nicht ausgehalten in dem Apartment, ist der Düsternis und der Stille entflohen. Seitdem läuft er ruhelos durch die Stadt, vorbei an Kinos, Restaurants, Geschäften, und überall begegnen ihm Pärchen, Menschen, die Händchen halten, vertrauliche Zärtlichkeiten austauschen, die Köpfe zusammenstecken und lachen. Vor Neid und Verlangen zittert er am ganzen Körper wie jemand, der von einer fiebrigen Erkältung heimgesucht wird. Er will haben, was sie haben, will endlich wieder ein normales Leben führen, will die Geborgenheit zurück, die er früher als selbstverständlich empfunden hat. Sogar mit Jakob.
Er erinnert sich an diese Zeit noch sehr gut, auch wenn sie lange zurückliegt. Die ersten Monate und Jahre ihrer Beziehung waren erfüllt von Geborgenheit. Er kann sich das nicht alles eingebildet haben, er hat es gespürt, er war sich sicher. Zum Beispiel der Tag, an dem sie beide überraschend früh Feierabend hatten und sich spontan entschlossen, einige Freunde zu einem Spieleabend einzuladen, weil am nächsten Tag sowieso Feiertag war. Rolf und Uli waren gekommen und Janne, Männer, die Arne schon seit Jahren kannte und die auch Jakob inzwischen als Freund ansahen. Zugegeben, Jakob benahm sich ihnen gegenüber immer ein wenig zurückhaltend, als ob sie nur zweite Wahl wären, als ob er ihnen nicht restlos vertraute, aber er war freundlich genug, sodass sie seine Reserviertheit einfach seinem Naturell zuschrieben. Rolf und Uli hatten ein paar Flaschen Wein mitgebracht und sie hatten
Weitere Kostenlose Bücher