Wie Jakob die Zeit verlor
oder Jugendlichen vergreifen, und jetzt fühlt er sich bedenklich in ihre Nähe gerückt.
Dann wiederum sieht er in Philip sein jüngeres Ich aufblitzen, den sorglosen, unbeschwerten Jakob, der unter dem Schutt der Vergangenheit vergraben liegt. Einen Jakob, der existiert hat, bevor das Virus sein Leben veränderte. Auch das ruft zwiespältige Gefühle in ihm hervor: Mehr als einmal hat er Philip schütteln wollen, als müsste er ihn aufwecken und warnen, dass die Welt ein gefährlicher, ein grausamer Ort ist. Er würde diesen Jungen – nein, ein Junge ist er nicht mehr –, diesen jungen Mann am liebsten mit einer Rüstung aus Eisen schützen, mit Netz und doppeltem Boden ausstatten, damit er nicht zu Schaden kommt. Und andererseits möchte er ihm raten, alles mitzunehmen, was er bekommen kann, wild und ungestüm zu sein, ein Draufgänger, ein Rabauke, ein Tunichtgut, damit er später nicht bereut, nichts erlebt zu haben.
In Philips Gegenwart ist Jakob jung und alt zugleich, und das ist ein überaus kurioses, ein überraschendes Gefühl.
Er ist noch immer ein wenig matt. Nach dem Friedhofsbesuch hat er Fieber bekommen und Gliederschmerzen, als hätte sich seine innere Pein auf seinen Körper übertragen. Natürlich kennt Jakob die Definition einer psychosomatischen Erkrankung, und sein Innerstes sagt ihm, dass er die klassischen Symptome zeigt, aber gegenüber Philip hat er jeden Zusammenhang mit Marius oder Arne abgestritten, hat einem grippalen Infekt die Schuld gegeben und sich zwei Tage ins Bett gelegt. Heute ist der erste Tag, an dem er fieberfrei ist, an dem er wieder normal essen kann und an dem ihn seine Gedanken nicht auf den Grund eines dunklen Sees ziehen. Die Mannschaft der Enterprise soll diesen Tag abrunden, sie sind alte Bekannte für Jakob, er fühlt sich wohl in ihrer Gegenwart. Ihre Handlungen sind vorauszusehen, berechenbar, das Happy End ist vorherbestimmt. (Zu bekommen ist es jedoch nur mit Einschränkungen. Im Film wie in der Literatur hat Glück immer einen Preis: den Tod eines Familienmitglieds, den Verlust eines Freundes, eine schmerzhafte Lektion – eine Art primitiver Tauschhandel. Ansonsten ist die Katharsis des Helden nicht glaubhaft. Dem Leben sind Begriffe wie Läuterung und Glück allerdings fremd, einen Anspruch auf Letzteres gibt es nicht. Jakob sollte das wissen.)
Philip hat sich während seiner Erkrankung eher zögerlich um Jakob gekümmert – als wüsste er nicht recht, was von ihm erwartet wird. Die Rolle des Versorgers, des Verantwortlichen, ist spürbar ungewohnt für ihn; er muss sie erst anprobieren wie eine neue Hose oder ein neues Paar Schuhe. Als Jakob ihn um eine Wärmflasche bat, hat er sich erst nach zweimaligem Nachfragen von dem Computerspiel lösen können, das er an Jakobs Rechner spielte, und als Jakob nach einem längeren Schlaf am Nachmittag aufwachte, war Philip verschwunden und tauchte erst nach Stunden wieder auf, ohne eine Erklärung, ohne sich für seine Abwesenheit zu entschuldigen. Andererseits ist offensichtlich, dass Philip ernsthaft besorgt ist um ihn. Immer wieder hat er Jakob gefragt, ob es ihm besser gehe, ob er einen Arzt anrufen soll, hat seine unwirschen Antworten gleichmütig weggesteckt. In der ersten Nacht hat er sogar die Bettwäsche gewechselt, nachdem Jakob sie nassgeschwitzt hatte. Ohne Murren ist er gegen drei Uhr aufgestanden und hat ihm einen frischen Pyjama aus dem Schrank geholt. Als Jakob am Morgen aufwachte und das Fieber gebrochen war, fand er Philip schlafend auf dem Sofa im Wohnzimmer, mit einer Wolldecke über den Beinen und Clinton zusammengerollt in der Beuge seiner Kniekehlen.
„Du hattest eine unruhige Nacht; ich dachte, es ist besser, wenn du alleine schläfst“, hatte er geantwortet, als Jakob ihn fragte, warum er nicht bei ihm geblieben war.
„Im Gästezimmer ist eine ausziehbare Schlafcouch. Warum hast du die nicht benutzt? Das wäre bequemer gewesen.“
Philip hatte gleichgültig mit den Schultern gezuckt. „Schon okay, Mann. Ich hab schon viel ungemütlicher gepennt.“
Jakob war versucht gewesen nachzuhaken, noch immer weiß er so gut wie nichts über Philips Leben, aber der Junge war aufgesprungen und hatte sich eilig angeboten, Frühstück zu machen. Als wollte er Fragen aus dem Weg gehen.
„Du siehst besser aus“, hatte er gesagt, während Jakob seinen Toast mit Käse belegte und an seinem Orangensaft nippte.
„Ich fühle mich auch etwas besser“, hatte Jakob zugegeben.
„Nein, ich meine …
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