Wie Jakob die Zeit verlor

kann es sein, dass du abgenommen hast?“
    Jakob war sofort auf die Waage gestiegen und hatte festgestellt, dass er tatsächlich vier Kilo verloren hatte. Im Spiegel hatte er gesehen, dass die Fettpolster an seinem Bauch längst nicht mehr so offensichtlich waren.
    Während im Fernsehen der Vorspann läuft, macht sich Philips Hand selbstständig und wandert unter der Bettdecke in die Richtung von Jakobs Schwanz, aber Jakob schlägt Philip auf die Finger und sagt: „In der Werbepause.“
    „Das ist nicht dein Ernst, oder?“
    „Natürlich ist das mein Ernst.“
    „Ich will aber jetzt Sex mit dir!“
    „Nachher, wenn der Film …“ Jakob bricht ab und wird blass. Er hat ein Geräusch gehört, auf das er seit Tagen wartet und auf das er doch nicht mehr zu hoffen gewagt hat. Er hat Schlüssel an der Wohnungstür gehört. Kurz darauf steht Arne im Türrahmen, und auf den Gesichtern aller drei Männer zeichnet sich gleich großes Erstaunen ab.
    „Philip!“, sagt Arne.
    „Arne!“, sagt Jakob.
    „Alexander!“, sagt Philip.
    „Wieso Alexander?“, fragt Jakob.
    „Wieso Arne?“, erwidert Philip.
    März 1989
    Bei einem Tankerunglück vor der Küste Alaskas läuft die „Exxon Valdez“ auf ein Riff und schlägt leck. Aus den Tanks entweichen mehr als 30.000 Tonnen Rohöl und verseuchen über 2000 km Küstenlinie. Es ist die bisher verheerendste Umweltkatastrophe in den Vereinigten Staaten.
    In den USA wird Dick Cheney vom neuen Präsidenten George Bush (1989-1993) zum Verteidigungsminister ernannt. Unter seinem Nachfolger und Sohn George W. Bush (2001-2009) wird Cheney es bis zum Vizepräsidenten bringen und allgemein als graue Eminenz der zweiten Bush-Administration angesehen.
    In Berlin (West) gibt es erstmals einen rot-grünen Senat. Regierender Oberbürgermeister wird Walter Momper von der SPD; er löst Eberhard Diepgen (CDU) ab.
    Im Innenhof des Pariser Louvre wird eine umstrittene Glaspyramide als neuer Museumseingang eingeweiht.
    Bei der Oscar-Verleihung in Los Angeles gewinnt der Film „Rain Man“ vier Auszeichnungen, darunter die für den besten Film. Dustin Hoffman wird für seine Leistung als bester Hauptdarsteller geehrt.
    Die World Health Organisation (WHO) beziffert die offizielle Zahl der Aids-Fälle weltweit auf 142.000. Da die Dunkelziffer um einiges höher liegen dürfte, geht man inoffiziell von weltweit 400.000 Menschen aus, die an Aids erkrankt sind. Die Zahl der HIV-Infizierten wird auf 5 bis 10 Millionen Menschen geschätzt.
    In Deutschland stehen Marc Almond und Gene Pitney mit dem Remake von „Something’s Gotten Hold of My Heart“ an der Spitze der Musikcharts; in Großbritannien ist es ein weiterer Hit von Stock/Aitken/Waterman: Jason Donovan mit „Too Many Broken Hearts“.
    Auf dem Balkon hatten sich die Narzissen nach langem Zögern endlich entschieden, ihre blassgelben Blüten zu öffnen, und ließen die Köpfe im Wind nicken. Der Geruch frischer, junger Blätter wehte wie ein Versprechen vom Grüngürtel bis in die Innenstadt. Jakob trat nach draußen und zupfte die bereits verwelkten Primeln ab, weiße und blaue Blütenreste, die aneinanderklebten und seine Finger dunkel färbten. Er hatte die Blumenzwiebeln im letzten Herbst gesetzt, ein beinahe symbolischer Akt, eine Demonstration. So viel Verlust in seinem Leben, so viel Krankheit um ihn herum; er hatte das Bedürfnis gehabt, ein Zeichen zu setzen, etwas wachsen zu sehen. Etwas, mit dem man einen neuen Beginn einläutete. Während der Wintermonate hatte er den zaghaften Wuchs der Pflanzen ungeduldig beobachtet, hatte die Töpfe mit Alufolie verkleidet, um sie gegen den Frost zu schützen, jetzt, endlich, konnte er aufatmen. Die Kraft des Winters war gebrochen.
    Truman leistete Jakob Gesellschaft und blinzelte in die untergehende Sonne; er hob den Kater auf den Arm und blickte mit ihm über die Dächer der Straße. Ein angestrengtes Husten im Wohnzimmer zog ihn jäh in die Realität zurück.
    „Komm“, sagte er über seine Schulter. „Lass uns etwas unternehmen. Lass uns ein Bier trinken gehen.“
    „Nein“, erwiderte Marius. „So wie ich aussehe, bestimmt nicht.“
    Er lag auf dem Sofa und ruhte sich von seiner Bestrahlung aus. Nach Monaten des Stillstands hatten sich die Kaposi-Sarkome auf seiner Haut mit Macht zurückgemeldet, sprossen nun umso stärker, als wollten sie sich für die Zeit rächen, in der sie erfolgreich von der Strahlentherapie verdrängt worden waren. Rötlich-violette Beulen, die sich auf