Wie Jakob die Zeit verlor
Teppich über die Dächer der Häuser gelegt hatte. Jakob musste die Augen zusammenkneifen, um nicht geblendet zu werden, wenn er aus dem Fenster sah.
„Wie heißt wer?“ Sie lagen im Bett. Holger hatte ihn aus dem Keller nach oben getragen, seinen schmerzenden Rücken mit Salbe eingerieben, und spielte geistesabwesend, beinahe zärtlich mit Jakobs Brustwarzen. Wenn Jakob den Kopf hob, konnte er die Eiszapfen am Fenstersims ausmachen und in der Ferne das glitzernde Wasser des namenlosen Sees, in der windstillen Luft glatt wie silbernes Geschenkpapier. Kein Laut drang von draußen zu ihnen, die Natur war kalt und abweisend, wie in einem Märchen von Hans Christian Andersen, eine Landschaft wie von der Schneekönigin erschaffen.
„Der, wegen dem ich dich jede Nacht verprügele.“
„Schwachsinn. Ich steh da einfach drauf. War schon immer so.“
Holger setzte sich auf und zwickte Jakob etwas härter. „Lügner. Du hast vorher noch nie was mit SM zu tun gehabt. Glaubst du, ich kann einen Neuling nicht von jemandem unterscheiden, der da schon seit Jahren drauf abfährt? Du bist noch immer überrascht, wie sehr du den Schmerz herbeisehnst.“
Jakob seufzte. „Marius. Er heißt Marius.“
„Und was ist mit ihm?“
„Ich habe ihn verlassen, als er mich gebraucht hat.“
„Dann solltest du vielleicht zu ihm zurückkehren. Manche Fehler kann man wieder gutmachen.“
„Manche Fehler aber auch nicht.“
„Er will dich nicht wiederhaben?“
Jakob dachte an den Brief, den er am Tag zuvor von Marius erhalten hatte, als er nach der Unibibliothek auf dem Weg zu Holger in seinem Studentenzimmer kurz nach der Post sah. Einen Brief, den er nicht erwartet hatte und der nur von Belanglosigkeiten erzählte und bei Jakob doch eine so große Sehnsucht ausgelöst hatte: vom Eintreffen der Stromrechnung, einem Besuch beim Zahnarzt. Von ihrem Kater, der einen Teil der Zimmerpflanzen demoliert hatte, um seinem Ärger darüber Ausdruck zu verleihen, dass Marius sich nicht genug um ihn kümmerte, zu selten zu Hause war. (Und wo war Marius, wenn er nicht zu Hause war? Mit wem verbrachte er so viel Zeit?) Zum Schluss hatte Marius Trumis Pfote in schwarze Tinte getaucht und den Abdruck auf dem Briefpapier hinterlassen, zusammen mit seiner Unterschrift und dem Nachsatz: „Wir vermissen dich.“ Was bedeutete das alles? Jakob war sofort zur nächsten Telefonzelle gerannt, aber Marius war nicht zu Hause gewesen, und so hatte er nur ein paar stotternde Sätze auf den Anrufbeantworter sprechen können, hatte sich nicht aus der Deckung getraut.
„Wiederhaben? Ich weiß nicht.“ Jakob zuckte mit den Schultern und stöhnte gleich darauf auf. Die Striemen auf seinem Rücken schmerzten bei jeder Bewegung.
„Da ist noch mehr“, stellte Holger fest.
Jakob nickte stumm. Es war so einfach, mit Holger darüber zu sprechen. Er blickte ohne Scheu in die Abgründe von Jakobs Verlangen. Er maß sich kein Urteil an. Und Jakob würde ihn nach dem Ende seines Berlinaufenthalts niemals wiedersehen. „Er könnte sterben“, flüsterte er schließlich.
Und Holger tat das Einzige, das half, Jakobs Dämonen auszutreiben: Er schleppte ihn wieder in den Keller, band ihn erneut fest und prügelte auf ihn ein, bis die Striemen auf seinem Rücken zu platzen drohten, bis ihm vor Erschöpfung schwarz wurde vor Augen. Jakob begrüßte den Schmerz wie einen alten Freund.
Stunden später fand er sich im Bett wieder, eingehüllt in eine mollig warme Decke, den würzigen Duft eines schwarzen Tees in der Nase, den Holger neben dem Bett abgestellt hatte.
„Besser?“, fragte Holger.
„Für den Moment“, erwiderte Jakob und zog eine schmerzverzerrte Grimasse, während er sich aufsetzte.
Als er wenige Tage später in Köln aus dem Zug stieg, wartete Marius am Bahnsteig auf ihn, eingekeilt zwischen einer Reisegruppe, die auf dem Weg in den Skiurlaub war, und ein paar älteren Damen, die sich besorgt um ihre Koffer geschart hatten, ein zögerndes, ein halbes Lächeln auf den Lippen.
„Ich will wieder mit dir zusammen sein“, brachte Jakob stockend heraus. „Ich hab Scheiße gebaut. Es tut mir leid.“
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Den ganzen Tag schon ist Arne gereizt. Beim Aufwachen, noch im Halbschlaf, hat er aus Gewohnheit neben sich gegriffen, und erst, als er das leere Kopfkissen unter seiner Hand gefühlt hat, ist ihm wieder bewusst geworden, dass er allein ist. Dass weder Jakob noch Philip weiter zu seinem Leben gehören. Mit Jakob hat er morgens in der Küche immer
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