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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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konnte, die an der Kölner Uni nicht vorhanden waren und die er benötigte, um seine Magisterarbeit fortzuführen. Er hatte sein Glück kaum fassen können. Hatte hastig eine große Reisetasche gepackt, sich in den Zug gesetzt und war über die Grenze der DDR hinweg in die ehemalige Hauptstadt gereist. Es war beinahe eine Flucht gewesen.
    Berlin schüchterte ihn ein. Es war laut, dreckig und rastlos, die linke Szene zu aggressiv, zu radikal, die alteingesessenen Berliner dazu noch abweisend und misstrauisch, geprägt von einer jahrzehntelangen Bunkermentalität als Vorposten des Westens inmitten des kommunistischen Feindes. Die Mauer schreckte ihn ab, ebenso das hässliche Niemandsland am Brandenburger Tor und der polizeistarrende Bahnhof Friedrichstraße, den er möglichst mied bei seinen Fahrten mit S- und U-Bahn. Jemand, der wie er jahrelang die vertraulichen Kumpaneien der Rheinländer gewohnt war, den Mief einer Provinzgroßstadt, musste sich auch erst mit der Anonymität der Metropole arrangieren, an das Achselzucken und vermeintliche Desinteresse, das ihm entgegenschlug. Das Leben hier hatte einen hektischen, unberechenbaren Rhythmus, dem man sich entweder unterwarf oder den Rücken kehrte. Jakob entschied sich für die Unterwerfung.
    Hätte ihm zu diesem Zeitpunkt jemand die Ereignisse vorhergesagt, die nur ein knappes Jahr später die Stadt, die beiden deutschen Staaten und ganz Europa aus dem Kalten Krieg herauskatapultieren sollten, hätte Jakob ihm an die Stirn gefasst und ihn für verrückt erklärt. In diesem Winter erschienen ihm die Verhältnisse genauso festzementiert wie die Mauer zwischen Ost- und Westberlin, wie das Eis, das unter dem Neuschnee die Bürgersteige in Rutschbahnen verwandelte. Nicht, dass er sich Gedanken darüber machte – noch Jahre später hatte er das Gefühl, dass die Umwälzungen der späten achtziger Jahre an ihm vorbeigezogen waren, ohne dass er sie tatsächlich wahrnahm. Es war, als geschähen sie in einem Paralleluniversum, in einer anderen, weit entfernten Welt, die nur über ganz wenige Schnittstellen mit der seinen verfügte.
    Über das Studentenwerk hatte Jakob ein Zimmer für einen Spottpreis gemietet, einen kargen, zugigen Raum mit Bad und Gemeinschaftstoilette auf dem Flur und einer unberechenbaren Heizung. Die meiste Zeit schlief er mit einer Jogginghose und einem dicken Pullover, sich hin und her wälzend auf dem rauen Laken. Oft wachte er mitten in der Nacht mit einem ausgetrockneten Mund auf und trank Leitungswasser, literweise, wie ein Verdurstender, danach lag er stundenlang wach und lauschte dem Gluckern in seinem Magen. Am Vormittag, wenn er den Rausch des vorhergehenden Abends ausgeschlafen und die Bruchstücke seiner Erinnerungen zur Seite geschoben hatte, quälte er sich mit der U-Bahn nach Dahlem, sichtete an seinem Tisch in der Bibliothek Kongressakten, Tagebücher, Essays, machte Notizen, schlang in einer kurzen Pause etwas Warmes zu essen hinunter, blätterte dann weiter durch Bibliographien, kopierte Aufsätze und Fachartikel und hielt sich mit bitterem, schwarzem Kaffee wach. Manchmal nickte er dennoch ein und fand sich desorientiert mit dem Kopf auf einem aufgeschlagenen Buch wieder, mit müden Augen, am Rande der völligen Erschöpfung. Aber am Abend zog er erneut los.
    Denn eigentlich war das Stipendium nur ein Vorwand. Eigentlich war Jakob nach Berlin gefahren, um Stefan und Marius aus seinem Körper herauszuficken, zu exorzieren wie böse Geister oder den Teufel. Hinaus aus seinem Körper, aus seinen Gedanken, aus seiner Seele. Mit Stefan gelang es ihm. Mit Marius nicht.
    In einer anderen Bar war es samstagnachtvoll; vor der Theke standen die Männer Schlange, um Getränke zu bestellen, glasige Blicke streiften ihn, blieben unschlüssig an ihm hängen, kehrten zu den an die Wand geworfenen, allgegenwärtigen Pornofilmen zurück. Stimmengewirr und alkoholschwangeres Gelächter ließen den Geräuschpegel anschwellen, kämpften mit der Diskomusik, die aus den Lautsprecherboxen dröhnte. Männer in Leder, Männer in Militäruniformen, Männer in ganz normaler Straßenkleidung; der Geruch von Bier und Nikotin, Schweiß und feuchten Jacken vermischte sich mit trockener Heizungsluft. Die mit unerfüllbaren Hoffnungen und Erwartungen aufgeladene Atmosphäre schwappte über Jakob zusammen wie eine Welle; ihre Gischt trug ihn an die Bar, wo er ein Bier holte und Streichhölzer für seine Zigaretten, dann schlenderte er eine Treppe nach unten zum

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