Wie Jakob die Zeit verlor
Monopoly gespielt, bis tief in die Nacht, bis Janne sie alle mit seinen durchgängigen Straßen und den vielen Hotelbauten händereibend in die Pleite getrieben hatte, und Jakob hatte sich mit den anderen über so viel Spielerglück empört, hatte vertraulich seine Hand auf Arnes Oberschenkel gelegt und ihm durchs Haar gestrichen.
Oder der Tag, an dem Arne am Köln-Marathon teilnahm, eine Veranstaltung, für die er monatelang trainiert, geschwitzt und fünf Kilo abgenommen hatte. Zusammen mit Jörg und Sandra hatte Jakob am Weg in der prallen Sonne gestanden und ihn mit lauten Rufen angefeuert, als er an ihnen vorbeikam. Und als er mit einer schmerzhaften Muskelzerrung in der Wade nach dem achten Kilometer aufgeben musste, war Jakob wieder da gewesen, hatte seine Enttäuschung geteilt und ihn getröstet. Humpelnd hatte sich Arne auf ihn gestützt und hatte seiner Jugend nachgetrauert, hatte gejammert, dass er jetzt ein alter Mann sei, ein Wrack, das in spätestens zehn Jahren Stützstrümpfe und ein Gebiss tragen würde, und Jakob hatte ihm lachend auf die Schulter geklopft und zugestimmt.
All das hat Arne mit Jakob erlebt, und er kann nicht glauben, dass das vorbei sein soll, dass es eine Lüge oder eine Täuschung war. Er weiß , dass Jakob glücklich war in dieser Zeit. Trotz Marius.
Ohne es zu merken, hat ihn sein Weg wieder vor seine Wohnung geführt, die Dachwohnung, die er mit Jakob teilt, sein wirkliches Zuhause. Während der Abend heraufzieht, kann er erneut Licht erkennen in den Fenstern, und diesmal hat er genug Mut, den Schlüssel herauszuholen und die Treppen hinaufzusteigen – der Zorn in seinem Bauch treibt ihn an. Er weiß noch immer nicht, was er Jakob sagen will, was er mit einer Konfrontation bezweckt, aber er muss seinem Ärger Luft machen, muss seine Trauer in Worte fassen. Er hat Antworten verdient, er hat ein Recht darauf.
Jakob liegt im Bett, das Kopfkissen im Nacken, die Hände erwartungsvoll hinter dem Kopf verschränkt. Philip kommt aus der Küche, nur mit einer Unterhose bekleidet, und schiebt sich den Rest einer Frikadelle in den Mund. Seine nackten Fußsohlen erzeugen knisternde Geräusche auf dem Parkett, als striche jemand mit der Handfläche über ein Blatt Papier.
„Beeil dich“, befiehlt Jakob. „Es geht gleich los.“
„Schon gut“, sagt Philip undeutlich und kaut weiter. Seitdem er ihn länger als nur einen Abend oder eine Nacht um sich hat, ist Jakob aufgefallen, dass Philip ständig isst. Zweite und dritte Portionen bei den Mahlzeiten sind nichts Ungewöhnliches, dazu noch Chips, Schokolade, Salzstangen, Gummibärchen, hin und wieder ein wenig Obst. Sein Kiefer ist eigentlich ununterbrochen mit dem Zerkleinern von Nahrung beschäftigt, und trotzdem ist er immer hungrig, nimmt niemals auch nur ein Gramm zu. Jakob hatte beinahe vergessen, dass es ihm in Philips Alter ähnlich ging.
Im Fernsehen ist ein StarTrek -Film angekündigt worden, und obwohl er alle Filme auswendig kennt, würde es sich Jakob nicht nehmen lassen, diese Wiederholung zu sehen – wie es sich für einen echten Trekkie gehört. Außerdem ist dieses Universum für Philip etwas völlig Neues. Er hat behauptet, sich nicht für Science-Fiction zu interessieren, und Jakob hat sich vorgenommen, ihn zu bekehren. Vielleicht hat er bei Philip mehr Glück als bei Arne, dem es gleich war, ob Captain Kirk oder Captain Picard auf der Brücke saß. Er hat bei jedem Film den Faden verloren, ständig dumme Zwischenfragen gestellt („Was soll denn ein Warp-Antrieb sein?“, „Diese Dinger heißen Borg? Und wieso haben sie Metallteile im Körper?“, „Warum haben Vulkanier spitze Ohren?“) und Jakob damit den Spaß verdorben.
Philip klettert zu ihm unter die Decke und schmiegt sich an seine Brust. Seine Locken kitzeln Jakob am Kinn. „Kann ich im Bett eine rauchen?“
„Nein. Du kannst in der Werbepause in die Küche gehen und da qualmen. Im Schlafzimmer nicht.“
Philip stöhnt und murmelt etwas von „Diktatur“. Jakob weiß, dass er es nicht ernst meint, und lächelt. Manchmal glaubt er in Philip den Sohn zu sehen, den er nie hatte – was ihn maßlos verwirrt, denn er kann dieses Gefühl nicht in Einklang bringen mit der sexuellen Anziehungskraft, die Philip auf ihn ausübt. Wie kann man sich zu jemandem hingezogen fühlen, der so jung ist, und gleichzeitig väterliche Schutzinstinkte empfinden? Ist das nicht pervers? Jakob hat noch nie Verständnis aufbringen können für Männer, die sich an Kindern
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