Wie Jakob die Zeit verlor
ist im Sessel zusammengesackt. Mit offenem Mund und vor der Brust verschränkten Armen ist er eingedöst. Der lange Arbeitstag fordert seinen Tribut.
Zu Beginn ihrer Beziehung hat Jakob solch eine Beschaulichkeit geliebt, das Gefühl von Sicherheit und Frieden, das ihm dieses Bild vermittelte. Aber nichts ist sicher. Nichts ist friedlich. Krieg tobt im Film und in seinem Körper, immerzu, in jeder Sekunde seines Lebens, und auch wenn seit Jahren ein von Medikamenten verhandelter Waffenstillstand zwischen den gegnerischen Parteien zu herrschen scheint, so können die Kriegshandlungen jederzeit wieder ausbrechen. Jakob kann nur hoffen. Aber die Hoffnung ist ein trügerischer Halt, eine blinde Göttin – manchen gewährt sie Hilfe, und anderen spuckt sie ins Gesicht. Jakob hat die Hoffnung hassen gelernt, er verabscheut ihre Allmächtigkeit. Arne versteht nicht, warum Jakob so skeptisch ist, er weist ihn gerne darauf hin, wie lange er schon überlebt hat, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, entgegen allen Vorhersagen. Aber Arne hat keine Vorstellung von dem Preis, den Jakob dafür gezahlt hat.
Schwerfällig steht Jakob auf und wirft die Essensreste in den Küchenmüll, legt das gebrauchte Besteck achtlos zu dem schmutzigen Geschirr in der Spüle. Im Haus gegenüber, auf der anderen Straßenseite, einem schmucklosen, uninspirierten Sechziger-Jahre-Bau mit schmalen, lang gezogenen Fenstern, die an Schießscharten erinnern, starrt ihn ein Gesicht aus dem obersten Stockwerk an. Für einen Moment erkennt er Marius, der gleiche Haaransatz, die gleichen weichen Gesichtszüge, und sein Herz poltert erschrocken. Seine Hände stützen sich überrascht an einem Stuhl ab, die Finger krallen sich um die Lehne. Er will das Fenster aufreißen, hinüberwinken, sich bemerkbar machen. Hier bin ich, Marius! Hier drüben! Schon wieder werden seine Augen feucht, und tief in ihm drin macht sich ein erleichtertes Schluchzen bereit. Er kann kaum an sich halten vor Glück. Doch die Illusion vergeht so schnell, wie sie gekommen ist. Der Mann im Fenster ist viel älter, seine Nase breiter, sein Kinn flacher.
Seit Jahren passiert es Jakob, dass er Marius zu sehen glaubt. Es kann überall geschehen: auf der Straße, in der U-Bahn, im Zuschauerraum eines Kinos. Für einen kurzen, unfassbar schönen Augenblick glaubt er dann, sich alles nur eingebildet zu haben, dass alles nur ein böser Traum war, aber gleich darauf wird er eines Besseren belehrt. Immer. Es ist niemals Marius, und Jakob fühlt, wie in diesen Momenten ein Stück seines Herzens erneut zerbricht.
April 1986
Ein Anschlag auf die vorwiegend von US-Soldaten besuchte Diskothek „La Belle“ in West-Berlin fordert drei Menschenleben, 230 Personen werden zum Teil schwer verletzt. Schnell verdichten sich die Hinweise, dass Libyen hinter dem Terroranschlag steckt.
In einem Atomkraftwerk in Tschernobyl (Ukraine) kommt es zum bis dahin größten Kernreaktorunfall in der Geschichte der Nutzung von Atomenergie, als der Reaktor von Block 4 des Kraftwerks explodiert. Über die Anzahl der infolge des Unglücks gestorbenen Menschen sowie über die gesundheitlichen Spätfolgen gibt es bis heute erbitterten Streit. In der Bundesrepublik wird den Bauern empfohlen, Feldfrüchte unterzupflügen, und den Kommunen wird nahegelegt, Kinderspielplätze zu sperren. Eine direkte politische Konsequenz der Katastrophe ist die Gründung des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Erster zuständiger Minister ist Walter Wallmann (CDU), der nach einem knappen Jahr von Klaus Töpfer (CDU) abgelöst wird. Erstmals wird auch in konservativen Kreisen die Atomenergie als Übergangstechnologie bezeichnet. Allerdings sind dies nur vereinzelte Stimmen.
Bundeskanzler Helmut Kohl äußert sich in einem Interview des österreichischen Rundfunks zugunsten des wegen seiner Rolle in der Nazi-Zeit umstrittenen österreichischen Präsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim. Kohls Stellungnahme wird von der Opposition in Bonn und von verschiedenen Stellen in Österreich als Einmischung in den Präsidentschaftswahlkampf kritisiert.
Der Spiegel widmet dem Thema Aids zum dritten Mal eine Titelgeschichte: „Aids. Das enträtselte Virus“. Danach wird es für möglich gehalten, dass in der Bundesrepublik bis zu 100.000 Menschen mit dem Virus infiziert sind. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums gibt es 250 akut an Aids erkrankte Personen. Noch trägt das Virus die Bezeichnung HTLV-III/LAV, im Mai
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