Wie Jakob die Zeit verlor
wird es auf der Aids-Konferenz in Paris offiziell in HIV umbenannt.
An der Spitze der deutschen Charts werden Modern Talking von Bruce und Bongo mit dem Song „Geil“ abgelöst, in Großbritannien kann sich George Michael mit „A Different Corner“ mehrere Wochen auf Position 1 halten.
Die Wohnung von Marius’ Eltern befand sich in einem Haus, das am Rande der Stadt lag, im rechtsrheinischen Stammheim, nur wenige Kilometer von Leverkusen entfernt. Eine Ecke von Köln, in der Jakob noch nie gewesen war, zerfasert, unbeachtet, lieblos. Sozialer Wohnungsbau in mehrstöckigen, tristen Hochhäusern, deren Fernsehantennen sich fordernd in den Himmel reckten, wechselte sich ab mit flachen, schachtelartigen Bungalows, vor denen die Bewohner die Bürgersteige kehrten und das Gras in ihren Vorgärten penibel stutzten, dahinter ein Supermarkt und der Friedhof des Stadtteils. Das Haus, das sich Marius’ Eltern mit einer zweiten Mietpartei teilten, stand etwas abseits, am Beginn einer langen Stichstraße. Eigentlich war es mehr eine kleine Villa, die im Gründerzeitstil erbaut worden und reich verziert war, mit großen Fenstern, die rückseitig in einen Garten blickten, nach vorne jedoch auf die in der Nähe des Hauses vorbeiführende Bundesstraße, deren Verkehr ein permanentes, brummendes Hintergrundgeräusch verursachte.
„Das ist es?“ Jakob starrte an der verwitterten Fassade empor. Das ehemals strahlende Gelb war im Laufe der Jahre zu einem schmutzigen Ocker verkommen, ein Wasserschaden unterhalb eines Erkers hatte Spuren hinterlassen. In einem der Fenster bewegte sich die Gardine; Jakob sah die Umrisse eines Gesichts in den Schatten zurückschnellen, Augen, die ihn mit unverhohlenem Misstrauen begutachteten. „Ich glaube, sie haben uns gesehen.“
„Da bin ich ganz sicher“, erwiderte Marius und schloss den Wagen ab. Da war ein Tonfall in seiner Stimme, den Jakob noch nicht kannte, eine Mischung aus unterdrücktem Ärger und peinlicher Berührtheit, aus Liebe und Frustration.
Die erste Etage: eine Wohnung, die durch abgehängte Decken und dunkle Eichenmöbel eng und erdrückend wirkte, das Museum einer Vergangenheit, die von dem Anspruch der Eltern kündete, etwas Besseres zu sein. Besser als die Bewohner des am Ende der Straße liegenden Ausländerwohnheims, besser als der Gebrauchtwagenhändler gegenüber. Auf den Kommoden, den Beistelltischen und auf dem Fernseher lagen bestickte Deckchen aus Brüsseler Spitze, eine Schrankwand mit einer Glasvitrine war mit allerlei Nippes bestückt: eine grazile Ballerina aus weißem Meissner Porzellan, geschliffene Kristallgläser, ein Service mit Rosendekor.
Eine schwere Standuhr zählte tickend die Zeit, ansonsten dämpften dicke Perserteppiche jedes Geräusch; dunkelgrüne Gardinen und gelbe Tapeten hüllten die Räume in ein staubiges, dämmriges Zwielicht. Jedes Räuspern erschreckte, jedes Lachen klang schrill und aufgesetzt. Ein Ort, an dem man nicht laut zu sein wagte, der hochnäsige Dienstboten vortäuschte, die in der Küche den Tee zubereiteten.
„Tut mit leid“, flüsterte Marius, als er Jakob durch die Wohnungstür schob. „Ich habe mich nicht getraut, dich zu warnen.“
„O Mann“, raunte er zurück und hielt sich an den Blumen fest, mit denen er bewaffnet war: einem Strauß Frühjahrsblüher, Tulpen und Osterglocken, die plötzlich viel zu grell wirkten, eine unpassende Fröhlichkeit verbreiteten. Lilien wären besser gewesen, steif und pompös. „Wirst du hier nicht schwermütig?“
„Sie müssen Herr Brenner sein! Marius hat uns schon viel von Ihnen erzählt!“ Eine kleine, schlanke Frau mit sorgfältig frisiertem, grauem Haar, beigefarbenem Kostüm und flachen Gesundheitsschuhen legte ein Kreuzworträtsel beiseite und trat ihnen entgegen. Auf ihrer Brust baumelte eine goldgefasste Lesebrille. Schmale, manikürte und von Altersflecken gezeichnete Hände griffen nach den Blumen, wässrige, braune Augen, in denen Jakob Marius wiedererkannte, musterten ihn aufmerksam, stahlen sich über sein Gesicht, wägten erneut ab, beurteilten. Tapfer zusammengepresste Lippen verrieten ihm, dass er den Test nicht bestanden hatte, dass er für nicht würdig befunden worden war, weil er das falsche Geschlecht besaß.
„Bitte, nennen Sie mich Jakob, Frau Janssen.“ Er starrte auf seine Schuhe, beschämt und wütend zugleich, dass ihm keine Chance gegeben wurde.
„Friedhelm, komm, sag guten Tag! Marius und der Herr Jakob sind da!“
Aus dem Wohnzimmer
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