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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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drang das Rascheln einer Zeitung, das Ächzen eines alternden Körpers, der mühsam aus einem Sessel gewuchtet wurde, dann die langsamen, vorsichtigen Trippelschritte, die die ersten Anzeichen der Parkinson’schen Krankheit andeuteten.
    „Guten Tag, junger Mann! Ein Studienfreund von Marius also? Wie schön. Herr… ähm…“ Eine brüchige Stimme, die jovial und mit ostpreußischem Akzent sprach, dunkle Augen unter dicken Brillengläsern, die nicht sahen, was sie nicht sehen wollten, ein selbstgerechtes Lächeln, das mit dem zurückliegenden Leben zufrieden war, ein gebeugter Rumpf, der diesem Leben Tribut zollte.
    Jakob ergriff die breite Hand, die ihm entgegengestreckt wurde und deren Händedruck nur noch erahnen ließ, mit welcher Kraft er früher ausgeführt worden war. „Jakob. Freut mich, Sie kennenzulernen.“
    Hilfesuchend blickte er sich nach Marius um, sah das Flehen in seinen Augen. Wie gern hätte er kehrtgemacht, wäre die Stufen hinuntergeflohen, aber dieser Nachmittag war seit Wochen geplant, dieses Sonntagnachmittag-Kaffeetrinken war wichtig für Marius. Ein stilles, verschwiegenes Zeichen an seine Mutter, dass er es ernst meinte, dass es keine Phase war, dass niemals eine Frau an seiner Seite diese Schwelle überschreiten würde. Ein Zeichen, das von Marius’ Vater nicht wahrgenommen werden konnte, in dessen Welt so etwas nicht existierte, allenfalls als Perversion, als Unglück, das anderen Leuten zustieß, aber nicht ihm, nicht seiner Familie.
    „Zieh eine Krawatte an!“, hatte Marius Jakob eingebläut. „Trag ein Hemd. Meine Eltern sind schon unter Adenauer nicht mehr jung gewesen. Und erwähne nicht, dass du amerikanische Geschichte studierst. Sag einfach Geschichte. Sonst redet mein Vater wieder die ganze Zeit über seine Kriegsgefangenschaft.“
    „Er war in Kriegsgefangenschaft?“, hatte Jakob überrascht gefragt.
    „Ich hab doch erzählt, dass meine Eltern einer anderen Generation angehören! Und sprich nicht über Polen.“
    „Polen? Wieso Polen?“
    „Weil meine Eltern bis heute davon überzeugt sind, dass ‚die Polacken’ den Krieg angefangen haben.“
    „Aber es ist historisch erwiesen, dass Hitler …“
    „Das ist meinen Eltern egal. Sie wissen, was sie wissen. Und Hitler hat immerhin die Autobahnen gebaut, sagen sie.“
    „Ich soll also verleugnen, was ich bin und was ich weiß? All meine Überzeugungen an der Haustür abgeben?“
    „Sie sind alt, Jakob! Sie verstehen die Welt von heute nicht mehr. Es ist doch nur für zwei Stunden.“
    „Ich hoffe, du weißt das zu würdigen“, hatte er sich brummelnd geschlagen gegeben.
    Im Wohnzimmer, neben einem verschlossenen Schrank, in dem sich die Jagdgewehre von Marius’ Vater aus einer früheren Zeit befanden, einer Zeit, in der er auf Einladung der Unternehmensführung im Bergischen Land Rotwild gejagt hatte – eine Auszeichnung! Diese Ehre wurde nur wenigen Bayer-Mitarbeitern, nur den leitenden Angestellten zuteil! –, war eine festliche Kaffeetafel dekoriert worden. Eine aufgetaute Sahnetorte thronte in der Mitte des Tisches, umgeben von altbackenem Geschirr in blau-weißem Zwiebelmuster, auf einer blütenweißen, gestärkten Tischdecke.
    „Wie mögen Sie Ihren Kaffee, Herr Jakob? Mit Milch? Mit Zucker?“
    „Beides, bitte.“ Jakob war so nervös, dass die Kuchengabel in seiner Hand zitterte.
    „O, ein ganz Süßer!“ Margarete Janssen spitzte die Lippen, während Jakob errötete.
    „Mutter!“ Marius machte eine fast unmerkliche Kopfbewegung.
    „Was denn? Ich hab doch nur …“
    „Und Sie studieren auch in Koblenz? Auch Architektur?“ Friedhelm Janssen schnitt seiner Frau das Wort ab, ohne etwas von dem Zwischenfall zu bemerken. Ein Klecks Sahnecreme blieb an seiner Unterlippe hängen, während er aß, sah irgendwie obszön aus, wackelte im Takt der Mundbewegungen.
    Jakob starrte wie gebannt auf den Kuchenrest, gleich würde er hinunterfallen auf den Teppich. Marius’ Vater lehnte sich zurück, wischte unabsichtlich über seine Lippen, die Sahnefüllung wanderte auf seinen Handrücken, den er an seiner Hose abwischte. „Ähm … nein. Ich studiere in Köln. Am … Geschichte.“
    „Ach? Ja, aber …“ Friedhelm Janssens Stimme stolperte verunsichert.
    „Wir haben uns auf einer Party kennengelernt. Der Party einer gemeinsamen Freundin“, umschiffte Marius das Hindernis.
    Sein Vater lächelte erleichtert. „Natürlich. Ihr jungen Burschen. In seiner Jugend muss man sich die Hörner

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