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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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abstoßen.“
    „Friedhelm!“, sagte Marius’ Mutter.
    Herr Janssen zwinkerte Marius und Jakob zu und lachte, als teilten hier drei Männer ein Geheimnis, das sich einer Frau nicht erschloss, als wären Jakob und Marius wie er, und Jakob fühlte sich schmierig, besudelt. Es gab nichts, was ihn mit diesem Mann verband, diesem Fossil, diesem Relikt einer braunen, längst vergangenen Epoche mit verqueren, verbogenen Moralvorstellungen. Er bemerkte, wie sich Marius’ Oberschenkel Zuspruch spendend unter dem Tisch an seinen schmiegte.
    „Das Wetter …“ Jakob versuchte, das Thema zu wechseln. „Ganz schön warm heute.“
    „Ach?“, erwiderte Marius’ Mutter. „Wir gehen ja nur selten vor die Tür. Die ganzen Ausländer nebenan, man weiß ja nie …“ Sie hob pikiert die Schultern.
    Stille senkte sich über den Raum, nur unterbrochen vom Geklapper der Teelöffel und Kuchengabeln und dem Ticken der Standuhr, deren Minuten plötzlich im Zeitlupentempo verrannen. Jakob spürte den Schweiß unter seinen Achseln. Der Knoten der Krawatte war zu eng, die Luft stickig. Wann war hier zum letzten Mal gelüftet worden? Wann der Staub aus dem Fenster geschüttelt worden, zusammen mit den Krusten althergebrachter Glaubenssätze und den Ressentiments von vorgestern? Noch eine Tasse Kaffee, noch ein Stück Kuchen, dessen weiche, schaumige Konsistenz in Jakobs Mund aufquoll zu einer widerlichen, klebrigen Masse, die er nur mit Ekel herunterschlucken konnte.
    Er verstärkte den Druck auf Marius’ Oberschenkel und Marius verstand, trank den letzten Rest Kaffee aus seiner Tasse. „Wir gehen jetzt nach oben. Ich will Jakob mein Zimmer zeigen.“
    Die Augen von Margarete Janssen folgten ihnen, und Jakob las die Enttäuschung in ihrem Blick, als er über die Schulter zurück ins Wohnzimmer schaute. Er verstand plötzlich, dass sie nicht nur verbittert war, weil Marius keine Frau mitgebracht hatte, sondern auch, weil er, Jakob, ihr den Sohn weggenommen hatte, das Kind, das auf die Welt zu bringen sie beinahe das Leben gekostet hatte.
    „Wie hältst du das nur aus?“ Er ließ sich aufatmend auf Marius’ Bett fallen und betrachtete die Einrichtung des Zimmers. Auch hier dunkle Möbel, auf einer Anrichte eine Kompanie Zinnsoldaten, ein Glasbehälter mit Matchboxautos, ein paar Familienfotos auf einem Glastisch, ein schwerer Schrank, der Marius’ Kleidung enthielt.
    „Den hat mein Großvater selbst gebaut. Er war Schreiner. Als Kind habe ich mich immer gefürchtet, dass sich jemand darin versteckt.“ Marius erwähnte es mit einem resignierten Stirnrunzeln, als hätte er Angst, das düstere Möbelstück für immer besitzen zu müssen.
    Ein brauner Teppich, eine langweilige, beige Tapete, in der Ecke eine gesichtslose, nackte Schaufensterpuppe.
    „Die habe ich auf einer Auktion ersteigert, für zwanzig Mark. Erst hat sie am Fenster gestanden und nach draußen geschaut, aber meine Mutter hat sich jedes Mal zu Tode erschrocken, wenn sie vom Einkaufen kam. Sie hat sie für einen Einbrecher gehalten.“
    Ein seltsam unpersönlicher Raum, als gäbe es nicht viel über das Kind zu sagen, das hier seine Jugend verlebt hatte. Jakob erinnerte sich an sein eigenes Kinderzimmer, dessen Wände mit grellbunten Bravo-Starschnitten beklebt gewesen waren, an den billigen, aber hellen Kleiderschrank aus Pressspan, das Plattenregal, gefüllt mit den Musikalben seiner Popidole. Das kleine Aquarium, in dem er wenig erfolgreich Guppys aufgezogen hatte. Das Schild an der Tür, das seinen Eltern und seinem Bruder den Eintritt ohne Anklopfen verbot.
    „Wie ich das aushalte?“ Marius machte eine unbestimmte Geste. „Sie sind halt meine Eltern. Und meine Mutter ist gar nicht so schlimm, wenn man sie erst mal näher kennt.“
    „Sie mag mich nicht.“
    „Quatsch. Wie kommst du darauf?“ Er legte sich neben ihn und Jakob fuhr ihm durch die Haare.
    „Sie will dich nicht hergeben.“
    Marius seufzte. „Ich weiß. Sie klammert. Es war schon schwer für sie, mich nach Koblenz gehen zu lassen. Außer meinem Vater hat sie jetzt niemanden mehr.“
    „Haben deine Eltern keine Verwandtschaft?“
    „Zwei Nichten meiner Mutter. Die eine lebt in der DDR, in Stralsund, und ist irgendwas in der Partei, die andere wohnt in Hannover und ist meiner Mutter nicht wirklich fein genug.“
    Jakob unterdrückte ein Grinsen. „Und Freunde?“
    „Nein. Mein Vater kann ein ziemlicher Kotzbrocken sein. Ein verbohrter, alter Mann, der allen misstraut und jeden

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