Wie Jakob die Zeit verlor
forschen.“ Jakob sah sie zweifelnd an. Er war sicher, dass am Job eines Dozenten noch mehr hing als die Korrektur von Klausuren, Unterrichtsvorbereitungen, Verwaltungskram. Aber es war müßig, Katrin darauf aufmerksam zu machen. Sie ließ sich nur schwer von etwas abbringen, was sie sich einmal vorgenommen hatte. Abgesehen davon beneidete Jakob seine Freundin um ihre Zuversicht. Je länger er über seine eigene Zukunft nachdachte, desto nebulöser waren seine Vorstellungen davon. Es schien nicht sehr viele Berufe zu geben, für die man ein Studium der amerikanischen Geschichte vorweisen musste. Hin und wieder erwischte er sich bei dem Gedanken, die Uni zu schmeißen und eine Lehre als Gärtner zu beginnen. Pflanzen hatte er schon immer gemocht. Jedes Mal, wenn er eine Blume umtopfte, erfüllte ihn eine tiefe, unerklärliche Ruhe; sobald er seine Hände in schwarzer Erde vergrub, an Blüten und Blättern zupfte, fühlte er Zufriedenheit. Vielleicht war es noch nicht zu spät? Aber wie sollte er das seinen Eltern erklären, die sein Studium mitfinanzierten?
„Und du?“, fragte Katrin Marius und riss damit Jakob aus seinen Überlegungen. „Was wird aus dir später?“
Marius schmeckte die Soße ein letztes Mal ab und goss die Nudeln durch ein Sieb. „Ein Architekt.“
„Die gibt es doch wie Sand am Meer.“
„Ich will mich irgendwann auf Altbausanierung spezialisieren.“
„Ausgerechnet Altbau?“, erwiderte Katrin mit hochgezogenen Augenbrauen. „Davon gibt es ja nicht mehr viele hier. Was im Krieg nicht kaputt gebombt wurde, hat man in den sechziger und siebziger Jahren abgerissen oder verstümmelt. Bestes Beispiel ist das Haus, in dem ich wohne.“
„Ja. Ich hab schon die hohen Decken bemerkt.“
„Der Vermieter hat das Haus in den fünfziger Jahren gekauft und den Stuck von den Decken und der Fassade abschlagen lassen. Er hat mir neulich mal Fotos gezeigt.“ Katrin schüttelte den Kopf. „Als Schnickschnack hat er die Verzierungen bezeichnet. Rauputz sei viel besser.“
„In der DDR gibt es noch viele Altbauten“, erwiderte Marius mit einem wehmütigen Blick. „Zwar total heruntergekommen, aber immerhin noch vorhanden. Ich war als Kind mal in Stralsund, meine Eltern haben dort Verwandte. Da hätte ich für den Rest meines Lebens zu tun.“
„Ich würde an deiner Stelle nicht auf die Wiedervereinigung spekulieren, Schnuffi“, grinste Jakob und verteilte die Spaghetti auf die Teller. „Bevor das passiert, sind sowohl du als auch die Altbauten drüben zu Staub zerfallen.“ Er war zu beschäftigt, um den schockierten Blick zu bemerken, den Marius ihm zuwarf.
Später, als sie mit dem Essen fertig waren und drei leere Rotweinflaschen auf dem Tisch standen, nahm Katrin Jakob beiseite. Marius war gerade aufgestanden, um das Badezimmer zu benutzen. „Er ist nett“, sagte sie. „Ich mag ihn. Der ist eine Investition in deine Zukunft. Du solltest ihn nicht mehr aus den Fingern lassen.“
„Hab ich auch nicht vor“, erwiderte Jakob.
„Man merkt, dass er es ernst meint.“
„Wirklich? Woran?“
Katrin seufzte. „Daran, wie er dich ansieht, Baby. Und wie er dich anfasst. Bei so viel Liebe wird mir fast schlecht.“
Jakob spürte ein wohliges, warmes Gefühl, als säße er vor einem knisternden Kaminfeuer, und konnte das breite Lächeln nicht aus seinem Gesicht wischen.
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Die Sonne blendet und Jakob setzt die Sonnenbrille auf. Allerdings ist die ungewöhnliche Hitze der letzten Apriltage verschwunden wie ein Spuk, dessen Zauberkraft verbraucht ist, und hat einem launischen Frühling Platz gemacht, der sich darin gefällt, Wind, Regen und Schönwettermomente wild durcheinanderzuwürfeln. Jakob kommt kaum nach, seine Kleidung den jeweiligen Tageserfordernissen anzupassen: Mal ist er zu warm angezogen und schwitzt, mal ärgert er sich, keinen Pullover übergestreift zu haben.
Das Wetter ist ein Spiegel seiner eigenen Gefühlslage. Arnes Flucht hat ihn aus der Bahn geworfen; er fühlt sich wie ein torkelnder Brummkreisel, hin und her taumelnd zwischen Tagen, an denen er vor Traurigkeit kaum aus dem Bett kommt, und Tagen, an denen er manchmal stundenlang nicht an Arne denkt. Bedeutet Letzteres, dass er ihn gar nicht mehr liebt? Dass er ihn vielleicht nie geliebt hat?
Um sich zu beschäftigen, macht Jakob Überstunden in der Gärtnerei und erledigt Dinge, die lange liegengeblieben sind. Er hat die Scheiben des Treibhauses geputzt, die vorgezogenen Tomatensträucher etikettiert,
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