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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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antworten: „Ja, das ist mein Neffe.“ Er deutet auf seinen Einkaufswagen, der noch immer vor der Kasse steht. „Das ist nur ein Missverständnis. Ich war gerade dabei, mich in die Schlange einzureihen. Wahrscheinlich hat mich mein Neffe nicht gesehen und gedacht, ich wäre schon draußen. Wahrscheinlich wollte er mich suchen und hat die Zigaretten tatsächlich vergessen.“ Er hat keine Ahnung, wie die Worte plötzlich auf seine Zunge und über seine Lippen kommen, aber es scheint das Natürlichste der Welt zu sein, den Jungen aus dieser Situation herauszuhauen. Jakob fühlt eine merkwürdige Verwegenheit seinen Puls beschleunigen. Wenn er sich nicht besser kennen würde, würde er glauben, Spaß zu haben.
    Der Stricher ist genauso erstaunt wie Jakob, aber der Sicherheitsmensch macht einen Schritt zurück, zögert unentschlossen, und damit siegt die waghalsig entworfene Fiktion über die Realität. „Na schön.“ Der Mann vom Wachdienst zuckt die Schultern in Richtung des Geschäftsführers, der aus den Tiefen des Supermarktes auf sie zukommt. „Eigentlich wäre hier eine Anzeige fällig, aber …“
    „Es wird nicht noch einmal passieren“, lächelt Jakob zuvorkommend und drängt den Stricher zu seinem Einkaufswagen. Der Junge lässt die Schachtel Zigaretten auf die Sachen fallen, die Jakob in den Wagen gestapelt hat, und beißt sich auf die Lippen, um nicht grölend loszulachen.
    „Das war cool, Opi“, raunt er Jakob zu. „Echt cool.“
    „Sag noch einmal Opi und ich erzähle denen die Wahrheit“, flüstert Jakob zurück. „Und jetzt hilf mir, die Sachen aufs Band zu legen.“
    „Ich hab gar keinen Onkel“, sagt der Stricher.
    „Und ich hab keinen Neffen“, erwidert Jakob. Was er hat, sind weiche Knie, und er fühlt eine prickelnde Anspannung vom Nacken bis zu seinen Fußspitzen, die sich erst entlädt, als sie beide den Supermarkt verlassen haben und um eine Ecke gebogen sind. Erschöpft lässt sich Jakob auf den Mauervorsprung neben dem Parkhaus des Supermarktes fallen.
    „O Mann“, sagt er. „Gib mir eine von den Zigaretten, die du mitgehen lassen wolltest. Ich hab zwar aufgehört zu rauchen, aber jetzt brauche ich eine.“
    Der Stricher holt zwei Glimmstängel aus der Packung und setzt sich zu Jakob. Einträchtig sehen sie dem Rauch zu, der aus ihren Mündern strömt.
    „Ich kann dir die Kohle für die Fluppen nicht wiedergeben“, sagt der Stricher und spuckt auf den Bürgersteig. „Ich bin im Moment total abgebrannt.“
    „Hab ich mir fast gedacht“, sagt Jakob mit einem Anflug von Ironie. „Wie heißt du eigentlich?“ Langsam beruhigt sich sein Puls wieder.
    Der Stricher zuckt mit den Schultern. „Such’s dir aus.“
    „Komm, sag schon. Ich will deinen richtigen Namen wissen. Ich bin Jakob.“
    „Ich heiße Philip.“
    „Ehrlich?“
    „Ja, Mann, ehrlich.“ Der Stricher raucht hastig zu Ende und schnippt seine Kippe achtlos auf den Bürgersteig.
    „35 Euro“, sagt Jakob automatisch.
    „Hä?“
    „So viel kostet das Wegwerfen eines Zigarettenstummels, wenn dich das Ordnungsamt erwischt.“ Jakob lässt seine Zigarette ebenfalls zu Boden fallen und grinst. Er fühlt sich zunehmend tollkühn.
    „Krass.“ Philip lacht und springt auf. „Ich muss weiter.“
    „Wohin?“
    Philip sieht ihn an, dreht die Strickmütze in seiner Hand und ist einen Augenblick lang sprachlos. „Weiter“, sagt er schließlich. Die Sonne taucht hinter den Wolken auf und verleiht dem Wust seiner blonden Haare einen honigfarbenen Schimmer. Plötzlich sieht er unsagbar schön und verletzlich aus, und Jakob kann die Möglichkeiten erkennen, die in dem Jungen verborgen sind. Die Hoffnungen, die er in einer Ecke seiner Seele verschlossen hat. Dann verschluckt eine Wolke die Sonnenstrahlen, und er ist wieder nur Philip, der schwule Stricher.
    „Du könntest mit zu mir nach Hause kommen.“ Zum zweiten Mal hört sich Jakob etwas sagen, von dem er nichts wusste, bevor er es ausgesprochen hat.
    „Als Gegenleistung?“
    Jakob verzieht das Gesicht. „Als Einladung.“ Er deutet auf die Tüten mit seinen Einkäufen. „Wir könnten zusammen essen. Ich hab versehentlich für zwei eingekauft.“
    Philip zögert. „Du bist echt strange , Alter.“ Dann nickt er.
    Während Jakob in der Küche die Sachen aus dem Supermarkt wegräumt und die Zutaten für das Essen bereitstellt, hat Philip im Wohnzimmer Clinton entdeckt. „Du hast ’ne Katze. Voll cool!“ Er krault Clinton hinter den Ohren. Der Kater

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