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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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schließt verzückt die Augen und fängt an zu schnurren. „Als ich klein war, wollte ich auch ’ne Katze haben oder einen Hund. Aber meine Alten …“ Er lässt den Satz unbeendet.
    „Wissen deine Eltern …“ Jakob weiß nicht, wie er die Frage möglichst neutral formulieren soll. „Wissen sie, was du machst?“
    „Die wissen noch nicht mal, wo ich bin. Zum Glück.“
    „Was meinst du damit? Wohnst du nicht mehr zu Hause?“
    „Hast du sie noch alle? Ich bin abgehauen, als ich sechzehn war.“ Philip streift durch das Chaos des Wohnzimmers, betrachtet CDs und probiert das Sofa aus.
    Jakob setzt das Messer ab, mit dem er gerade die Kartoffeln schält. „Und wo wohnst du?“
    Philips Antwort ist vage. „Mal hier, mal da.“
    „Und du lebst von dem, was du so mit … Sex verdienst?“ Er kann sich Philips Leben nicht vorstellen, es ist so außerhalb jeglicher Regeln, dass ihm ein Referenzpunkt fehlt.
    „Yep.“
    Jakob schüttelt den Kopf.
    Philip hat inzwischen Arnes Namen auf dem Abo der Computerzeitschriften entdeckt. „Du wohnst hier nicht alleine, oder?“
    „Ja … nein.“ Jakob kann nicht sagen, welche Antwort die richtige ist.
    Philip lacht auf. „Was denn nun?“
    Jakob drückt seine Hände gegen die Arbeitsplatte und schließt die Augen. „Wir haben uns gestritten. Arne ist abgehauen. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.“
    „Aha.“ Die Antwort scheint Philip zu genügen, er speichert sie ab wie eine Datei, die er vielleicht später aufrufen wird oder auch nicht, und Jakob fühlt einen leichten Unmut über sein Desinteresse in sich aufsteigen.
    „Mann, krass, Alter!“, sagt Philip plötzlich. „Du hast sogar noch Schallplatten. Wie schwul ist das denn?“
    Jakob kann nicht einmal ansatzweise erraten, was das Wort „schwul“ in diesem Zusammenhang zu bedeuten hat. „Wir haben sogar noch einen Plattenspieler“, antwortet er.
    Ohne zu fragen, stöbert Philip in der Schallplattensammlung, die Arne und Jakob aus ihrer Jugend in die Zeit der MP3-Player und iTunes hinübergerettet haben. Die klassischen Stücke legt er mit einem Gähnen zur Seite, als wären sie Kaufhausmusik, und bei den Alben von Abba verzieht er die Mundwinkel. Der Name Blue Öyster Cult geht ihm nur mühsam über die Lippen, auch Stevie Wonder scheint ihm nicht zuzusagen. Dann hört Jakob ein Rascheln, als Philip eine Platte aus ihrer Hülle zieht, das Klicken des Plattenspielers und das dumpfe Geräusch des Tonarms, der auf der Platte aufsetzt. Als die Musik anfängt, klingt sie verzerrt, zu tief und leiernd, wie ein Band, das zu langsam abgespielt wird.
    „Irgendwas stimmt nicht“, sagt Philip und sieht den Plattenspieler misstrauisch an.
    „Wahrscheinlich hast du die falsche Geschwindigkeit eingestellt“, ruft ihm Jakob zu. „LPs auf 33 und Singles und Maxi-Singles auf 45.“ Er lächelt über die Unwissenheit des Jungen, aber das Lächeln gefriert ihm auf den Lippen, als Philip die richtige Geschwindigkeit gefunden hat, die ersten Noten der Melodie zu ihm in die Küche dringen und Bette Midler zu singen beginnt.
    „It must have been cold there in my shadow, to never have sunlight on your face. You were content to let me shine, that’s your way, you always walked a step behind ...”
    Jakob stürmt ins Wohnzimmer und zerrt den Tonarm von der Platte. „Das nicht!“, fährt er Philip an. Er reißt ihm die Plattenhülle aus der Hand. „Gib das her!“
    Der Junge hebt die Hände in einer Geste der Beruhigung. „Schon gut, Alter!“ Er starrt Jakob an, der neben dem Regal steht und um Fassung ringt.
    Es ist Ende September, und als sie aus dem Kino kommen, zieht sich Marius die Mütze tief über die Stirn, obwohl es draußen schon dunkel ist. Jakob weiß, dass er sich davor fürchtet, jemand könnte die Flecken in seinem Gesicht bemerken. Er weiß, dass sich Marius seines Aussehens schämt, was die Krankheit aus ihm gemacht hat.
    Sie haben sich „Freundinnen“ im Kino angeschaut, den neuen Film mit Bette Midler, ein Film über zwei Frauen, von denen eine an Krebs stirbt. Vielleicht war das keine so gute Idee. Als Bette Midler „Wind beneath My Wings“ gesungen hat, sind ihnen beiden Tränen über die Wangen gerollt, und ihre Hände haben sich aneinandergeklammert. Sie haben viel geweint in den letzten Wochen, und jedes Mal wird ein Stück von Jakobs Herz zu Eis, weil es sich anfühlt wie ein kleiner Abschied.
    Sie schaffen es gerade noch bis in eine Nebenstraße, wo Marius im Schatten eines

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