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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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Hauseingangs zusammenbricht. Rotz und Tränen verkleben sein Gesicht, er zittert am ganzen Körper. „Ich habe solche Angst!“, stößt er hervor und sieht Jakob verzweifelt an. „Ich habe solche Angst.“

    „Alles okay mit dir?“, fragt Philip. „Du siehst scheiße aus.“
    Jakob dreht sich zu ihm, als wüsste er nicht, wen er vor sich hat. „Mir geht’s gut“, sagt er leise und räuspert sich. Plötzlich will er, dass Philip geht, will alleine sein. Wie ist er bloß auf die Idee gekommen, einen Stricher zu sich nach Hause einzuladen? Er kennt den Jungen kaum. Was ist, wenn dieser Philip ihn plötzlich ausraubt? Seine Scheckkarten und sein Bargeld liegen im Portemonnaie auf dem Küchentisch, er bräuchte nur zuzugreifen.
    Seine Gedanken scheinen sich auf seinem Gesicht widerzuspiegeln, denn Philip sagt plötzlich: „Ist wohl besser, wenn ich ’n Abgang mache, Alter.“ Er schiebt seine Mütze vom Kopf, wuschelt sich durch die Haare und zieht sie wieder über, sodass nur noch die Locken auf der Stirn und die Haare im Nacken darunter hervorlugen. Das, mehr als alles andere, lässt Jakob wieder zur Besinnung kommen.
    „Nein“, sagt er. „Bleib. Es tut mir leid.“ Zärtlich streicht er über die Platte von Bette Midler. „Das Lied erinnert mich an meinen Freund.“
    „Der, der dich sitzen gelassen hat?“
    Jakob sieht Philip verwirrt an, kann ihm einen Moment nicht folgen. „Oh. Nein, nicht Arne. Marius. Mein erster Freund. Er ist gestorben, 1989.“
    „Echt jetzt? In dem Jahr bin ich geboren. Krass.“ Philip verarbeitet das eben Gehörte, dann fragt er: „Woran ist er gestorben? Ein Unfall?“
    „Aids“, sagt Jakob langsam. Ein irrwitziger Gedanke beginnt in seinem Kopf Gestalt anzunehmen.
    Philip pfeift leise durch die Zähne. „Tut mir leid, Mann. Ich hab noch nie jemanden getroffen, der einen gekannt hat, der an Aids gestorben ist.“
    Aber Jakob hört ihm kaum zu. „Wann genau bist du geboren?“, fragt er.
    „November“, erwidert Philip. „27. November 1989. Damit bin ich schon Schütze. Wieso, ist das wichtig?“
    Jakob hat auf einmal ganz trockene Lippen. „Marius ist am 26. November gestorben“, sagt er heiser.
    Philip sieht ihn verständnislos an. „Hammer!“, sagt er, aber es ist ihm anzumerken, dass er sich plötzlich unwohl fühlt. „Und du meinst … dass das irgendwas zu bedeuten hat?“
    „Ich … ich weiß nicht. Es ist ein merkwürdiger Zufall, oder?“
    Sie starren einander an, Jakob fühlt die Sekunden verrinnen. Dann weicht Philip einen Schritt zurück. „Du bist ein bisschen durchgeknallt, Alter. Das ist wirklich nur ein Zufall.“
    Erst als Jakob bemerkt, wie die Blicke des Jungen hastig zur Wohnungstür springen, wird ihm klar, wie absonderlich er sich in den letzten Augenblicken verhalten hat. Dass er Philip einen ziemlichen Schrecken eingejagt hat – und sich selbst auch. Er ist sicher, dass Silky Legs bei seiner nächsten Sitzung eine ganze Menge dazu sagen wird, wenn er davon erzählt.
    „Es tut mir leid“, entschuldigt er sich erneut. „Ich … Marius ist noch immer ein wunder Punkt für mich, auch nach so langer Zeit. Natürlich hat das nichts zu bedeuten.“
    Philip entspannt sich ein wenig und lacht unsicher. „Schon klar.“
    In diesem Moment kocht das Wasser der Kartoffeln über, und Jakob eilt erleichtert in die Küche. Während er die übergelaufene Brühe wegwischt und die Herdplatten mit zitternden Fingern säubert, ist er sicher, dass er gleich das unvermeidliche Geräusch der Wohnungstür hören wird, die hinter Philip ins Schloss fällt. Er an Philips Stelle würde wahrscheinlich genauso handeln. Doch dann kommen die Schritte des Jungen zu ihm in die Küche, ein Stuhl wird zurückgeschoben, und Jakob lauscht dem verräterischen Klicken eines Feuerzeugs. Er ist so froh darüber, dass er Philip noch nicht einmal sagt, dass in der Wohnung das Rauchen eigentlich verboten ist.
    „Hast du vielleicht irgendwas Alk-mäßiges im Haus? Bier oder so?“, fragt Philip.
    „Ich habe Wein“, erwidert Jakob, ohne sich umzudrehen.
    „Na schön“, seufzt Philip. „Hauptsache, es dröhnt.“
    Januar 1987
    Die Perestroika-Politik von Michail Gorbatschow beginnt auch ein Umdenken im Westen zu bewirken. Am 1. Januar sendet Radio Moskau eine Neujahrsbotschaft des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan an das sowjetische Volk, in der er seiner Hoffnung auf weitere Abrüstungsschritte Ausdruck verleiht.
    Bei der Neujahrsansprache von Bundeskanzler Helmut

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