Wie Jakob die Zeit verlor
Kohl (CDU) für das Jahr 1987 kommt es dagegen zu einem peinlichen Missgeschick: Die ARD hat am Silvesterabend versehentlich die Rede von 1986 wiederholt und strahlt die für das neue Jahr geplante Ansprache erst einen Tag später, am 1. Januar, aus.
Die Wahlen zum elften Deutschen Bundestag enden mit Verlusten für die großen Parteien CDU und SPD sowie Gewinnen für die FDP und die Grünen. Dennoch kann sich die schwarz-gelbe Koalition mit einer klaren Mehrheit behaupten.
Peter Gauweiler, Staatssekretär im Bayerischen Innenministerium, fordert in einem Spiegel -Streitgespräch eine Meldepflicht bei HIV-Infektionen, regelmäßige Zwangsuntersuchungen der Betroffenen, die Erfassung der Angehörigen aller Risikogruppen und die Ausweisung von HIV-infizierten Ausländern.
Randy Shilts, Reporter des San Francisco Chronicle , veröffentlicht eine der ersten Chroniken über Aids: „And the Band Played On – Politics, People, and the AIDS Epidemic“.
Aufgeschreckt durch die auch in Europa immer stärker ansteigenden Infektionszahlen beginnen mehrere westeuropäische Länder ihre Bevölkerungen mit Postwurfsendungen und Fernsehspots über die Gefahren von Aids und die Ansteckungsrisiken zu informieren.
In Deutschland führen Mel & Kim mit „Showing out“ die Hitparade an; in Großbritannien steht Jackie Wilson mit „Reet Petite“ an der Spitze.
Jakob hatte nicht erwartet, dass die Realität mit einer Kraft über ihm zusammenbrach, die einer Sturmflut glich, mit einer zerstörerischen Gewalt, die seine Welt aus den Fugen geraten ließ. Er hatte sich einfach nicht vorstellen können, dass er die Zeit ab sofort in zwei Abschnitte unterteilen würde: die Zeit davor und die Zeit danach. Er hatte nicht glauben können, dass es ihn tatsächlich traf. All die Jahre, in denen er von der Existenz des Virus wusste, hatte er nicht ernsthaft die Möglichkeit in Betracht gezogen, sich infizieren zu können. Solche Dinge passierten in Amerika oder in Afrika, nicht hier, nicht ihm. Er war jung, gerade fünfundzwanzig, er hatte sich unsterblich gefühlt. Wie hätte er erwarten können, sich mit dem Tod zu beschäftigen?
Jakob starrte den Telefonhörer an und fühlte sein Herz im Brustkorb pochen, viel zu schnell, viel zu aufgeregt.
Vor Weihnachten war er erneut zu einem Test gegangen, und dieses Mal hatte er Marius vorher Bescheid gesagt. Anfang Dezember hatte er die verräterische Schwellung der Lymphknoten in seiner Leiste entdeckt. Beide hatten gewusst, was das bedeutete, und trotzdem hatte Marius gefragt, ob er es denn wirklich wissen wollte. Was es denn nütze, wenn er die Information bekäme? Marius hatte seltsam schicksalsergeben geklungen, und Jakob hatte ihn verständnislos angesehen, wie schon einmal. Wie konnte es sein, dass sie in diesem Punkt so unterschiedlicher Meinung waren?
Die drei Wochen Wartezeit waren die schlimmsten seines Lebens gewesen. Er hatte kaum geschlafen und die Feiertage waren an ihm vorbeigezogen, ohne dass er im Nachhinein sagen konnte, wie er sie überstanden hatte. Die Weihnachtsferien hatte er in einer Art Dämmerzustand verbracht; nur bröckchenweise hatte er Essen zu sich genommen. Unter dem Weihnachtsbaum bei seinen Eltern hätte er beinahe angefangen zu heulen und er war kurz davor gewesen, alles zu beichten. Nur die dunkle Ahnung, welches Drama er dadurch entfachen würde, hatte ihn davon abgehalten. Seine Eltern hatten sich schon mit seiner Homosexualität nur schwer abgefunden; Marius als Schwiegersohn zu akzeptieren, war ihnen ebenfalls nicht leicht gefallen. Dass er und Marius nebenbei noch Sex mit anderen Männern hatten, dass sie keine monogame Beziehung führten, lag jenseits ihres Horizonts. Mit einer tödlichen Infektion würden sie nicht umgehen können. Das Schlimmste jedoch war, dass Jakob, der Marius nach Silvester nur an den Wochenenden hatte sehen können, niemanden hatte, an dem er sich hatte festklammern können.
Und jetzt wusste er es. Als er sich am Morgen bei der Sprechstundenhilfe meldete, war er sofort zu seinem Arzt durchgestellt worden – schon allein diese Tatsache war ein schlechtes Omen gewesen –, und der hatte nicht lange um den heißen Brei herumgeredet: „Das Testergebnis ist positiv, Herr Brenner.“ Und als Jakob nicht geantwortet hatte, nur darauf bedacht war, weiterzuatmen, ein und aus, als hätte er verlernt, wie man die Lungen mit Luft füllt, hatte er hinzugefügt: „Zwei oder drei Jahre, mehr kann ich Ihnen nicht versprechen. Machen Sie
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