Wie Jakob die Zeit verlor
sich noch eine schöne Zeit.“ Jakob war so schockiert gewesen, dass er nicht einmal bemerkt hatte, wie zynisch der letzte Satz klang.
Wie betäubt stand er auf, zog sich nackt aus und stellte sich im Badezimmer vor den Spiegel. Betrachtete seinen Körper mit zusammengekniffenen Augen, tastete die Schwellung im Bereich seiner Leiste ab, seine Arme, seinen Oberkörper. Er hatte immer gedacht, er würde sich krank fühlen, müde, abgeschlagen, wenn er das Virus hatte, so wie bei einem grippalen Infekt. Stattdessen fühlte er sich – besessen. Etwas Fremdes war in diesen Körper eingedrungen, etwas, das nicht zu ihm gehörte, das gegen ihn arbeitete und ihn in absehbarer Zeit töten würde. Ein mikroskopisch kleiner, unsichtbarer Feind. Wenn er es nur exorzieren könnte wie einen Dämon oder herausschneiden wie ein Chirurg, der ein bösartiges Geschwulst mit einem Skalpell entfernt. Er hatte keine Erinnerung daran, die Nagelschere aus ihrem Etui geholt zu haben, aber plötzlich hielt er sie in der Hand und ihre Spitze stach in seine Leiste, ein Tropfen Blut quoll heraus. Erst der unerwartete Schmerz und die kirschrote Farbe des Blutes ließen ihn zur Besinnung kommen.
Jakob floh aus dem Badezimmer, zog sich wieder an und sah aus dem Fenster, beobachtete den Verkehr, der im Schritttempo durch die Gassen des Belgischen Viertels fuhr. Eine milchige Wintersonne reflektierte das Licht in den Scheiben des gegenüberliegenden Hauses. Im Herbst war er umgezogen, mit Marius’ Hilfe, in ein kleines Einzimmerapartment in Fußnähe zur Innenstadt. Sie waren so fröhlich gewesen, so zuversichtlich. Marius hatte den VW-Bus eines Bekannten organisiert, und Jakob hatte seine wenigen Habseligkeiten problemlos darin verstaut. Das sperrigste Möbelstück war sein abgenutzter Schreibtisch gewesen; den Kleiderschrank hatten sie in Einzelteile zerlegt. Innerhalb weniger Stunden war der Umzug abgeschlossen, und als am späten Nachmittag auch das Doppelbett, das Jakob aus zweiter Hand preiswert erstanden hatte, geliefert und aufgestellt worden war, hatten sie Sex gemacht, wild und ausgelassen. Wie merkwürdig, jetzt daran zu denken. Er konnte sich nicht vorstellen, jemals wieder Sex zu haben. Der Akt an sich kam ihm besudelt vor, unrein. Seiner Leichtigkeit beraubt.
Das Wichtigste war, diesen Tag zu meistern, irgendwie die Stunden zu füllen, die vor ihm lagen. Jakob sah einem Mann nach, der seinen Hund Gassi führte, zwei Kindern, die mit Schulranzen auf dem Rücken die Straße überquerten und Sammelbilder tauschten. Wie absurd, dass die Welt nicht stillstand, dass sie über sein Schicksal teilnahmslos hinwegging, sich weiterdrehte, während er innerlich versteinerte.
Jakob hätte sich gerne Katrin anvertraut, aber seine Freundin befand sich seit Ende Oktober in Schottland, hatte ein Auslandsstipendium ergattert. Es gab keinen Weg, sie zu erreichen, genauso gut hätte Katrin an einer Expedition zum Nordpol teilnehmen können. Und Marius war in Koblenz. Er hatte versprochen, direkt nach der Uni anzurufen, am Nachmittag, spätestens am frühen Abend.
Wie ein Schlafwandler verrichtete Jakob sein Tagewerk. Er versuchte, nur an die nächsten Minuten zu denken, kleine Zeitabschnitte, die er bewältigen konnte: Pack deinen Rucksack; geh die Straße entlang; um zehn Uhr willst du in der Unibibliothek sein; schreib auf, worum es in dem Zeitschriftenartikel geht. (Er musste den Artikel fünf Mal lesen, bevor sich ihm der Sinn erschloss. Irgendwas über F.D. Roosevelt und den New Deal, und Jakob hätte ums Verrecken nicht sagen können, was dieser New Deal beinhaltete, obwohl er sicher war, eine Woche zuvor in einem Seminar etwas darüber gelernt zu haben.) Wenn du nichts essen kannst, versuch wenigstens die Suppe bei dir zu behalten; trink einen Kaffee; wenn du deine Lippen bewegst, kannst du auch sprechen. Aber wozu das alles noch? Wozu sich Mühe geben?
Es kostete ihn eine fast übermenschliche Selbstbeherrschung, diesen Tag zu überstehen. Wenn ihn jemand ansprach, hörte er die Worte wie durch einen Schalldämpfer, er lächelte reflexartig und antwortete auf Fragen, ohne zu wissen, was er sagte. Später hatte er keinerlei Erinnerung an die Stunden nach dem Anruf beim Arzt. Sein Gedächtnis hatte die nachfolgenden Ereignisse einfach gelöscht, die kleinen Nichtigkeiten, die diesen Tag ausmachten, nicht abgespeichert. Eine ärztliche Untersuchung hätte ergeben, dass er unter Schock stand, vielleicht sogar ein Trauma erlitten hatte, aber
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