Wie Jakob die Zeit verlor
Jakob fühlte sich nur seltsam abwesend, als hätte ein Fremder die Steuerung und Grundfunktionen seines Körpers übernommen, während er von außen unbeteiligt zusah.
Das alles änderte sich erst, als er sich am späten Nachmittag in seiner Wohnung wiederfand. Das Klingeln des Telefon riss ihn aus seiner Amnesie; er fühlte eine Welle der Trauer durch seinen Körper rasen und stöhnte unwillkürlich auf.
„Ich bin’s“, sagte Marius. Seine Stimme in der Telefonzelle klang blechern.
Jakob wollte etwas erwidern, aber er brachte nur ein heiseres Krächzen zustande, und dann brach er in Tränen aus. Er hörte, wie sein Freund zischend einatmete.
„Ich komme sofort. Ich setze mich ins Auto, und in ungefähr einer Stunde bin ich bei dir. Kannst du so lange durchhalten? Bitte, Jakob?“
Marius klang ängstlich, und Jakob nickte stumm. Erst dann fiel ihm ein, dass er etwas sagen musste, dass er seine Stimmbänder zwingen musste, sich in Gang zu setzen. „Komm schnell“, brachte er heraus. „Du musst mich festhalten.“
Einen Monat später erhielt auch Marius sein positives Testergebnis, und es kam ihnen vor, als begänne die Zeit, die sie für unendlich gehalten hatten, zwischen ihren Fingern zu zerrinnen, wie zu feiner Sand in einem Stundenglas.
Nachdem ihr Mann aus Budapest zurückgekehrt ist, hat Arne Katrins Vorschlag angenommen und für einige Tage das Gästezimmer bezogen. Von Jochen bekommt er nicht viel zu sehen, er hat eine internistische Praxis, geht aus dem Haus, bevor Arne aufwacht, und arbeitet bis spät in den Abend. Arne mag ihn sowieso nicht besonders; wenn sie sich im Haus begegnen, liegt eine merkwürdige Spannung in der Luft, als fühlte Jochen sich in seiner Männlichkeit bedroht, nur weil Arne schwul ist.
Von Katrin sieht er dafür umso mehr. Sie hat ein Sabbat-Semester eingelegt und ist den ganzen Tag zu Hause. Eigentlich will sie die Zeit nutzen, um ihr Buch über World Building and Fictional Universes in den späten Romanen von Margaret Atwood zu schreiben. Arne kann sich darunter nicht das Geringste vorstellen, aber immerhin hat er den Namen der kanadischen Autorin schon gehört, sodass er sich nicht wie ein kompletter Idiot vorkommt. Sein Besuch jedoch scheint Katrin als Vorwand gerade recht zu kommen, denn während seines Aufenthalts lässt sie alle Arbeiten an dem Projekt ruhen.
Zu seiner Überraschung verstehen sie sich gut. Katrin hat einen trockenen, bissigen Humor, der ihn immer wieder überrumpelt und lachen lässt, bevor er sich seiner Heiterkeit bewusst werden kann.
„Es gab wohl in letzter Zeit nicht viele Gelegenheiten, bei denen du fröhlich warst, oder?“ Arne stolpert über einen Stein und Katrins Hand fängt ihn auf. Ihre Frage trifft ihn unerwartet, als sie einen ausgedehnten Spaziergang in dem an das Dorf angrenzenden Wald unternehmen. Der Boden ist weich und gibt federnd unter seinen Schritten nach, grün-braunes Moos überzieht weite Teile des Weges. Sonnenlicht flackert durch die Lücken der Baumkronen, im Unterholz raschelt ein Tier.
„Wie kommst du darauf?“, fragt er zurück.
„Dein Lachen klingt ein bisschen eingerostet.“
Er denkt an die letzten Wochen und Monate mit Jakob zurück. Gab es da tatsächlich keinen Moment, in dem er herzhaft gelacht hat, in dem er ausgelassen war? Alles, was ihm einfällt, sind Diskussionen, Streitereien, Unstimmigkeiten und Jakobs Augen, die immer in die Vergangenheit blicken, nie nach vorne. Früher wollte er mit ihrem Blau eins werden; stattdessen hat er sich darin verloren, verspürt eine unerträgliche Einsamkeit, wenn er Jakob ansieht.
„War er immer so?“, fragt er. „So … traurig?“
Katrin schnaubt auf und kichert. „Hat er dir je von seinem ersten Erlebnis mit einem Lederkerl erzählt?“
Arne schüttelt den Kopf. „Er redet mit mir nicht über früher.“ Tatsächlich verschließt sich Jakob wie eine Auster, die eine Perle beschützt, wenn Arne ihn auf seine Vergangenheit anspricht. Wie jemand, der befürchtet, es könnte ihm etwas gestohlen werden. Dass er sein Fotoalbum hervorgeholt und seine Freunde beschrieben hat, war eine Ausnahme, unwillig gestattet, nie wiederholt.
„Das muss gewesen sein, kurz nachdem wir uns kennengelernt haben, vielleicht 1984, also weit vor Marius. Jakob und ich hatten damals dieses Seminar zusammen, ‚Einführung in die Kanadistik‘, wenn ich mich nicht irre. Morgens von zehn bis zwölf. Glaub mir, keine gute Uhrzeit für Jakob, denn er hat die ersten Semester
Weitere Kostenlose Bücher