Wie Jakob die Zeit verlor
Kunden ab deinem Alter aufwärts?“
„Es ist wahrscheinlich einfacher, jemanden für Sex zu bezahlen, als sich der Demütigung auszusetzen, andauernd einen Korb zu bekommen, nur weil man nicht mehr jung ist. Wer will schon mit einem Fünfzig- oder Sechzigjährigen ins Bett, wenn er jemanden haben kann, der dreißig Jahre jünger ist?“
„Ich, zum Beispiel.“ Philip kramt eine Zigarette aus der Packung und raucht. Der Nikotingestank überlagert den Geruch des Essens, und Jakob öffnet das Fenster.
„Was nimmst du eigentlich so, wenn du dich mit jemandem triffst?“
„Kohlemäßig? Hundert Euro die Stunde. Die ganze Nacht fünfhundert.“
Jakob bleibt der Mund offen stehen. „So viel? Du müsstest steinreich sein!“ Er überschlägt die Summen im Kopf und rechnet aus, dass der Junge monatlich mehr verdient als er.
„Ich mach das nur, wenn ich abgebrannt bin“, schränkt Philip ein. „Regelmäßig wär mir das zu stressig.“
„Ich versteh deinen Lebensstil nicht“, sagt Jakob. „Ich meine, wieso machst du nicht mehr aus deinem Leben? Du kannst das vielleicht für die nächsten fünf oder zehn Jahre tun – und dann?“
„Mann, willst du mir jetzt moralisch kommen?“ Philip verzieht gelangweilt das Gesicht. „Ist doch meine Sache!“
„Aber …“ Jakob beißt sich auf die Lippen. Es stimmt, es geht ihn nichts an. Aber irgendwie beginnt er, so etwas wie Schutzinstinkte für Philip zu entwickeln – was grotesk ist, denn vor wenigen Tagen hat er ihn noch nicht einmal gekannt. „Passt du wenigstens auf?“
Philip sieht ihn erst fragend an, dann fängt er an zu lachen. „Du bist echt abgefahren, Alter. Du laberst wie die Ehrenamtler von diesem Verein, der schwule Stricher betreut. Die stecken einem auch andauernd Safer-Sex-Packs zu. Lass das mal meine Sorge sein.“ Er schnippt Asche von seiner Zigarette. „Außerdem – einer meiner besten Kunden ist Arzt. Wenn ich mir was eingefangen hab, sag ich dem Bescheid. Es gibt nichts, was ein paar Antibiotika nicht behandeln könnten.“
„Und was ist mit HIV?“
Philip zuckt mit den Schultern. „Halb so wild. Da gibt’s doch auch Pillen für. Außerdem bin ich schon positiv.“
„Aber du bist erst zweiundzwanzig!“, sagt Jakob erschrocken. Und dann erinnert er sich, dass er selbst nur wenig älter war, als er sich angesteckt hat.
„Ich hab’s mir schon mit achtzehn geholt“, erwidert Philip. „Keine große Sache.“
„Keine große Sache?“, wiederholt Jakob. Dann steht er auf und stellt sich neben Philip. Er greift den Zeigefinger des Jungen und fährt über seine eingefallenen Wangen, rollt sein T-Shirt hoch und deutet auf die Fettpolster um seinen Bauch. „Siehst du das?“, sagt er aufgebracht. „Das nennt man Lipodystrophie, eine Fettumverteilung als Nebenwirkung der HIV-Medikamente, die ich seit zwanzig Jahren nehme. Jeden Tag, wenn ich in den Spiegel sehe, werde ich daran erinnert, welchen Preis ich zahle.“
Philip grinst ihn an. „Wenn du auch positiv bist, brauchen wir ja keine Gummis zu nehmen“, sagt er.
Jakob ist sprachlos über seine Unbekümmertheit. Wie kann er ihm verständlich machen, dass seine Einstellung falsch ist? Damals, nach seinem eigenen Testergebnis, hat er ähnlich gedacht, und manchmal denkt er auch heute noch so, er kann nichts dagegen tun. Seit Marius hat sich nichts daran geändert, dass er Gummis als störend empfindet, dass sie ihn beim Sex behindern. Jedes Mal, wenn er versucht, sich eines überzurollen, denkt er an den Tod. Marius’ Gesicht taucht dann plötzlich vor ihm auf und all die anderen, die das Virus niedergemäht hat.
In den Jahren, die nach Marius kamen, hat er versucht, riskante Situationen einfach zu vermeiden, auch wenn ihm das nicht immer gelungen ist, hat auf Dinge verzichtet, die ein Kondom erfordert hätten, oder sich Männer gesucht, die auch positiv waren. Das machte die Sache nicht weniger falsch, aber er konnte das Thema verdrängen, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Erst mit Arne hatte ihn seine Vergangenheit wieder eingeholt. Arne bestand auf Gummis, er war negativ und wollte es auch bleiben. Ob diese Tatsache einer der Gründe war, warum der Sex zwischen ihnen so schnell vorbei war?
Die Wahrheit ist, dass Jakob das Wort „Prävention“ nicht mehr hören kann. Sein halbes Leben lebt er mit dem Virus, ist mit Aufklärungsbroschüren beworfen worden, hat Plakate an Werbewänden gelesen, Werbespots gesehen, Gespräche mit Ärzten geführt und sich die
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