Wie Jakob die Zeit verlor
Vorstellung von Leben. Aber mit Jakobs Unbekümmertheit, der Sorglosigkeit, die in Katrins Erzählung durchschimmert, hätte er gerne Bekanntschaft gemacht.
„Aber wann hat er sich so verändert?“, fragt er am Nachmittag, als sie auf der Terrasse sitzen und einen etwas verunglückten Apfelkuchen essen. Katrins Fähigkeiten in der Küche haben sich im Laufe der Jahre nicht verbessert. Der Kuchen war zu lange im Ofen, die Ränder sind verbrannt, und als Arne sie abschneidet und ein paar Amseln im Garten zuwirft, wollen selbst sie die schwarzen Krumen nicht aufpicken.
Katrin spießt ein Stück Kuchen auf ihre Gabel und kaut trotzig. „Na ja“, sagt sie mit vollem Mund. „Er ist etwas ruhiger geworden, als er Marius getroffen hat.“ Sie blinzelt, als müsste sie ein paar Tränen unterdrücken, und Arne fühlt eine gewisse Ohnmacht, nein, eher Frustration in sich aufsteigen. Anscheinend kann auch Katrin nicht über Marius sprechen, ohne von Trauer übermannt zu werden. Vielleicht war es ein Fehler, hierherzukommen.
„Marius war Jakobs erste große Liebe“, sagt Katrin sanft, als hätte sie Arnes Unmut genau registriert. „Und sein Tod hat Jakob gezeichnet. Was erwartest du?“
Er rutscht unruhig auf seinem Stuhl herum. „Dass ich nicht gegen Gespenster kämpfen muss. Denn diesen Kampf kann ich nicht gewinnen.“
„Da ist was dran. Du hast von Anfang an schlechte Karten gehabt. Marius wird in Jakobs Erinnerung immer jung sein …“
„… und ich bin der alte Sack, zu dem er gekommen ist, weil nichts Besseres mehr auf Lager war?“, fragt Arne verbittert. „Weil er nicht mehr allein sein wollte?“
Katrin blickt nachdenklich in den Garten. „Das weiß ich nicht.“ Sie räumt das Kaffeegeschirr zusammen und trägt es auf einem Tablett in die Küche. „Als Marius gestorben ist, habe ich schon nicht mehr in Köln gewohnt.“ Wahllos stapelt sie die Tassen und Teller in die Spülmaschine, und Arne muss an sich halten, um nicht mehr Ordnung in ihr System zu bringen. Wenn er das Geschirr einsortieren würde, passte mehr als doppelt so viel hinein. „Ich bin schon während des Studiums nach München gegangen, wegen meines damaligen Freundes, Michael, der beim Bayerischen Rundfunk eine Stelle bekommen hatte. Gott, was für ein Arschloch! Nach zwei Monaten habe ich herausgefunden, dass er hinter meinem Rücken mit so einer Schlampe aus der Buchhaltung gevögelt hat.“ Sie unterbricht sich und runzelt die Stirn. „Sorry. Wir haben wohl alle unsere Narben aus vergangenen Beziehungen. Was ich sagen wollte, ist, dass Jakob und ich uns zwar noch immer beste Freunde nennen und auch noch immer absolutes Vertrauen zueinander haben, aber in Wahrheit sind wir uns im Laufe der Jahre ein wenig fremd geworden. Allein schon aufgrund der Entfernung. Wir telefonieren alle vier Wochen und sehen uns vielleicht einmal im Jahr, wenn Jakob die Zeit findet, mich zu besuchen – ich schaffe es ja auch nie, nach Köln zu kommen. Das ist okay, versteh mich nicht falsch, und ich würde alles für Jakob tun, aber ich weiß nicht wirklich, was für ein Mensch er inzwischen ist.“
„Du meinst, du kannst mir nicht helfen?“
Katrin schürzt die Lippen und streicht gedankenverloren ein paar Kuchenkrümel von der Arbeitsfläche. „Ich weiß nicht, wobei ich dir helfen soll, Arne. Ich bin nicht sicher, ob es den Jakob, den ich einmal gekannt habe, noch gibt.“
*
Philip hat das Steak, die Kartoffeln und das Gemüse bis auf den letzten Rest verputzt. Die Bratensauce tunkt er mit einem Stück Baguette auf, dann lässt er sich mit einem zufriedenen Seufzer an die Lehne des Stuhles fallen und leckt sich die Finger. „Das war gut. Du hättest Koch werden sollen. In deinem Restaurant würde ich jeden Abend essen.“
Inzwischen ist es dunkel geworden, und Jakob schaltet das Licht in der Küche ein. Die Schatten im Raum fliehen in die unzugänglichen Ecken unter dem Schrank und hinter der Heizung. „Du hättest kein Geld, um für die Mahlzeit zu bezahlen“, sagt er.
„Ich könnte dich anders entschädigen“, grinst Philip, aber Jakob winkt ab.
„Sex spielt in meinem Leben keine große Rolle mehr.“
„Was soll denn das heißen? Macht dir Ficken keinen Spaß?“
Jakob schwenkt nachdenklich sein Rotweinglas. „Als ich so alt war wie du, hab ich auch an kaum etwas anderes gedacht“, gibt er zu. „Aber irgendwann … man hat plötzlich andere Prioritäten.“
„Blödsinn“, erwidert Philip. „Wieso hab ich dann so viele
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