Wie Jakob die Zeit verlor
Gesicht. „Zusammenschlagen?“ Er kann sich keinen Reim auf Philips Geschichte machen. „Bist du verletzt?“
„Weiß nicht … die Lippe blutet und … Scheiße, verdammte!“ Es hört sich an, als müsste Philip ein Schluchzen zurückhalten.
„Wo bist du?“
Philips Stimme verschwindet, wird mal leiser, dann wieder lauter. „Ehrenfeld … Die Arschlöcher haben mir die ganze Kohle abgenommen, Handy, einfach alles.“ Im Hintergrund kann Jakob Autolärm hören, eine Fahrradklingel. „Hier ist so ’n Münzfernsprecher, ich hab mir das Geld von ’ner Frau geliehen. Wusstest du, dass es die Dinger kaum noch gibt? Ich musste ’ne Viertelstunde suchen, bis ich einen gefunden hab. Scheiß-Telekom.“
„Was für eine Frau?“, fragt Jakob und kommt sich ein bisschen idiotisch vor.
„Was? ’ne Frau halt. Die kam hier an der Venloer an mir vorbei. Ich hab sie angebettelt. Ich meine … kann ich bei dir ’ne Nacht pennen?“
Jakob fühlt sich überrumpelt. „Warum ich? Ich dachte, du hast keinen Bock mehr auf mich?“
„Komm, Alter, jetzt mach keinen Stress“, drängelt Philip. „Bitte!“ Das kleine Wort kostet ihn hörbar Überwindung.
Jakob zögert kurz, dann sagt er seufzend: „Na schön, dann komm vorbei.“
„Ich … kannst du mich vielleicht holen?“ Wieder verschwindet Philips Stimme, dann hört er ihn rufen: „Ey, ich bin gleich fertig, okay?“, und dann ist Philip wieder bei ihm. „Mann, die Leute sind so was von scheiße drauf hier! Also … kannst du mich vielleicht holen? Ich glaub, ich schaff das nicht bis zu dir … ich kann jetzt so nicht in die U-Bahn.“
Jakob rollt die Augen, dann macht er mit Philip einen Treffpunkt aus, setzt sich in seinen Wagen und fährt quer durch die Stadt, um ihn abzuholen.
Es ist schon dunkel, die Neonreklamen der Geschäfte spiegeln sich in den Schaufenstern. Der Junge hockt am Eingang zur U-Bahn-Station zwischen abgestellten Fahrrädern und raucht nervös eine Zigarette, als Jakob am Bürgersteig hält. Er sieht ziemlich mitgenommen aus. Seine Lippe und sein linkes Auge sind geschwollen, auf sein hellblaues T-Shirt ist Blut getropft und er hinkt, als er Jakob entgegenkommt.
„Na endlich“, sagt er und lässt sich aufatmend auf den Beifahrersitz fallen. „Bloß weg hier. Gib Gas.“
„Wie ist das denn passiert?“, fragt Jakob. Er dreht den Wagen und fährt zurück.
„Ich hatte hier in der Ecke ’nen Kunden. Und als ich aus der Haustür raus bin, waren die plötzlich vor mir. Drei. Ich meine … was haben diese Typen für ein Problem? Ich lass die doch auch zu Allah beten, dann sollen die mich ficken lassen, mit wem ich will!“ Philip ist noch immer aufgebracht.
„Es waren also Ausländer?“ Jakob hat gehört, dass in Köln Schwule in letzter Zeit vermehrt Opfer von Übergriffen junger Deutsch-Türken geworden sind, überhaupt sollen Aggressionen gegen Schwule wieder zunehmen, aber er selbst ist davon bisher verschont geblieben. Tatsächlich hat er noch nie aufgrund seiner Homosexualität Probleme gehabt. Eher wegen seiner HIV-Infektion.
Jakob steht im Büro seines Professors, in wenigen Monaten muss er seine mündlichen Examensprüfungen ablegen. Er sieht furchtbar aus, Marius ist vor zwei Tagen ins Krankenhaus gekommen.
„Ich kann in den nächsten … W-Wochen nicht an den Seminaren teilnehmen“, stammelt er. „Mein Freund ist krank, es geht ihm sehr schlecht.“ Eigentlich wollte er eine Lüge erfinden, aber die Wahrheit ist ihm über die Lippen gerutscht, bevor er Zeit hatte zu überlegen. Er denkt viele Dinge in letzter Zeit nicht zu Ende, schert sich nicht um Konsequenzen. Nur Marius ist noch wichtig.
Das Krötengesicht des Professors mit dem breiten Mund und der flachen Nase blickt überrascht auf. Der Mann ist stark übergewichtig und kurzatmig. Während des Unterrichts hat er die Angewohnheit, sich mit einem Taschentuch über die Stirn zu wischen, um den Schweiß abzutrocknen. „Ihr … Freund?“ Jakob kann sehen, wie seine Äußerung verarbeitet und eingeordnet wird, wie Schlussfolgerungen gezogen werden. Er wünschte, er könnte seine Worte zurücknehmen. „Ich verstehe.“ Der Professor trommelt mit einem Kugelschreiber auf seinen Schreibtisch. „Natürlich. Dann kümmern Sie sich um Ihren … ähm … Ihren Partner, Herr Brenner.“
Jakob bedankt sich erleichtert und ist schon in der Tür, als er zurückgerufen wird.
„Herr Brenner?“ Das Gesicht des Professors ist bereits in einen wissenschaftlichen
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