Wie Jakob die Zeit verlor
Aufsatz vertieft, während er mit ihm spricht. „Sie haben doch neulich mit meiner Assistentin die Möglichkeit eines Doktorandenstipendiums nach dem Examen erörtert.“
„Ja, richtig. Ich dachte an die innenpolitischen Auseinandersetzungen während …“
„Vielleicht … vielleicht sollten wir eine andere Möglichkeit ins Auge fassen. Etwas weniger Zeitintensives.“
Jakob sieht ihn stumm an. Plötzlich ahnt er, was als Nächstes kommt, aber er will es aus dem Munde des Professors hören. „Etwas anderes?“
Der Blick von Prof. Dr. Scherber bleibt starr auf das Papier vor ihm gerichtet. Er räuspert sich mehrmals, als wäre etwas Sperriges in seiner Kehle steckengeblieben. „Angesichts Ihrer … ähm … Lebenssituation erscheint mir eine Doktorarbeit zu umfangreich. Ich kann ein solches Unterfangen aus … wirtschaftlichen Gründen nicht befürworten. Die Gelder, die für solche Stipendien zur Verfügung stehen, sind begrenzt, und es wäre unsinnig, sie in jemanden zu investieren, dessen Lebenszeit … Sie verstehen mich. Konzentrieren Sie sich auf Ihr Examen, danach werden wir etwas finden, was Ihrem … ähm … Zeitrahmen entgegenkommt.“
„Bitte?“ Jakob hat Philip nicht zugehört. Er blinzelt und findet sich im Auto wieder.
„Türken, Libanesen, Marokkaner, was weiß ich“, wiederholt der Junge, der gar nicht gemerkt hat, dass Jakob geistig abwesend war. „Einer war aber Deutscher. Der hat auch als Erster zugeschlagen. Waren alle in meinem Alter ungefähr.“
„Aber …“ Etwas an der Geschichte kommt ihm merkwürdig vor. Warum sollten sie grundlos auf Philip eindreschen?
„Mann, du weißt doch, wie so was abgeht!“, sagt Philip und tastet vorsichtig seine Lippe ab. „Der eine hat ‚Schwuchtel‘ hinter mir hergerufen, als ich an denen vorbeiwollte. Da bin ich zurück und hab gefragt, ob ich ihn in den Arsch ficken soll.“
„Was?“ Jakob tritt scharf auf die Bremse. Um ein Haar wäre er auf den Wagen vor sich aufgefahren. „Bist du irre?“
„Alter, so was lass ich mir nicht gefallen!“
„Aber die waren zu dritt!“
Philip zuckt mit den Schultern. Dann sagt er: „150 Euro zum Teufel. Das ist echt zum Kotzen!“
„Sei froh, dass dir nichts Schlimmeres passiert ist. Du hättest auch krankenhausreif geprügelt werden können. Wie fühlst du dich überhaupt?“
„Beschissen, Mann. Was denkst du denn? Und irgendwas stimmt mit meinem Bein nicht. Der eine hat voll dagegengetreten, als ich am Boden lag.“
„Du solltest dich anschnallen, wenn du im Auto sitzt.“ Jakob deutet auf den Gurt, der ungenutzt an der Beifahrerseite hängt. Die Bordelektronik ist teilweise defekt, sonst hätte ihn ihr Piepen schon darauf aufmerksam gemacht.
„Für die kurze Strecke?“, mault Philip. „Sind doch nur ein paar Meter.“
„Im Stadtverkehr passieren die meisten Unfälle. Das ist statistisch erwiesen. Außerdem muss ich das Knöllchen zahlen, wenn wir von der Polizei angehalten werden, denn du hast dir ja dein Geld abnehmen lassen.“
„Ich hab es mir nicht abnehmen lassen! Es ist mir geklaut worden, nachdem die Arschlöcher mich verprügelt haben“, erwidert Philip patzig, aber immerhin, er schnallt sich an. „Was ist das überhaupt für ein komisches Auto?“, sagt er nach einer Weile. „Hier ist nur Platz für zwei. Und wofür brauchst du die Ladefläche? Außerdem riecht’s hier voll krass.“
„Erstens ist das ein amerikanischer Pick-up, ein Chevrolet, um genau zu sein.“ Jakob lächelt unwillkürlich. Er muss plötzlich an Marius denken und seine eigene anfängliche Unkenntnis, was Automarken angeht. Er hat einen weiten Weg hinter sich. „Zweitens brauche ich den Wagen, wenn ich Pflanzen oder Blumen ausfahre, und drittens riecht’s hier drin nach Erde.“
„Du bist Gärtner, stimmt’s?“
„Genau.“
„Dachte ich mir.“
Jakob dreht sich erstaunt zu ihm. „Wieso?“
„Nur so. Find ich cool.“ Philip starrt aus dem Seitenfenster, als gäbe es dort etwas Interessantes zu sehen.
Der Rest der Fahrt verläuft schweigend. Während Jakob den Wagen durch den Feierabendverkehr schlängelt, lehnt Philip den Hinterkopf an die Kopfstütze und schließt die Augen. Jakob wirft ihm hin und wieder einen verstohlenen Blick zu, mustert die weichen – im Moment allerdings eher verquollenen – Gesichtszüge, die Haare, die ihm wirr in die Stirn fallen. Er hat noch nie eine so merkwürdige Bekanntschaft geschlossen. Kann es sein, dass er neidisch auf Philip ist? Auf
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