Wie Jakob die Zeit verlor
lebst du?“
„Ich könnte ein paar Nudeln machen. Nichts Besonderes, aber …“
„Wäre cool, Alter.“
Jakob geht in die Küche, und Philip humpelt hinter ihm her. Er sieht sich um, begutachtet die Kaffeeringe auf dem Tisch, das ungespülte Geschirr, den überquellenden Mülleimer. „Dein Kerl ist immer noch nicht wieder aufgetaucht?“
Jakob murmelt etwas Unverständliches und schüttelt unwillig den Kopf.
Philip hebt abwehrend die Hände. „War nur ’ne Frage, Alter!“
„Und ich bin nicht ‚Alter‘, nicht ‚Mann‘ und nicht ‚Opi‘, wenn wir schon mal dabei sind. Mein Name ist Jakob!“
Der Junge sieht ihn mit großen Augen an. „Schon gut, Al… Jakob.“
Jakob sucht ein paar Tomaten aus dem Obstkorb und beginnt, eine Soße für die Nudeln zuzubereiten. „Es tut mir übrigens leid“, sagt er. „Das mit dem Stricher. Ich wollte dich nicht beleidigen.“
Philip macht eine wegwerfende Handbewegung. „Ich bin nicht nachtragend.“
Jakob hält plötzlich inne. „Woher hast du eigentlich meine Telefonnummer?“ Er kann sich nicht erinnern, sie Philip gegeben zu haben.
„Ähm … von deiner Visitenkarte. Die … lagen da neben dem Telefon?“, druckst Philip herum. „Ich hab eine mitgehen lassen, als ich neulich abgehauen bin.“
Aber Jakob weiß genau, dass er seine Visitenkarten nie neben dem Telefon deponiert. „Daher wusstest du also, dass ich Gärtner bin! Du hast es auf der Karte gelesen! Das heißt, du warst an meinem Portemonnaie!“, sagt er wütend und dreht sich zu Philip. „Hast du Geld mitgehen lassen?“
„Nein, hab ich nicht!“, empört sich Philip. „So was mach ich nicht! Nur die Visitenkarte. Ich wollte wissen, wie dein Kerl aussieht. Hier gibt’s nirgendwo ein Foto von ihm, und da dachte ich, es ist in der Geldbörse … der ist auch noch ziemlich jung, oder?“
„Arne?“, erwidert Jakob verwirrt. „Nein, Arne ist sogar ein paar Jahre älter als …“ Dann versteht er, was Philip gemeint hat. „Das ist ein Foto von Marius. Der, der gestorben ist.“
„Du trägst noch ein Foto von ihm im Portemonnaie? Und was sagt Arne dazu?“
„Das hat nichts mit Arne zu tun.“
„Also ich wäre sauer, wenn mein Kerl das Foto von einem anderen ständig mit sich herumschleppen würde.“
„Aber Marius ist tot!“, verteidigt sich Jakob.
„Wär mir egal“, sagt Philip.
Nach dem Essen sind beide faul und müde. Das Adrenalin, das seinen Körper seit dem Überfall geflutet hat, verebbt zusehends, und Philip kuschelt sich wie selbstverständlich an Jakob, als sie im Bett liegen. Er ist wie ein Welpe, der sich in den Schutz eines Stärkeren flüchtet. Jakob fühlt sich seltsam unbeholfen und schüchtern, er weiß nicht, wohin mit seinen Händen. Nur zögernd umfasst er Philip, zieht ihn enger an sich.
„Erzähl mir von … wie hieß er? Marius?“, murmelt der Junge schon im Halbschlaf.
Jakob streicht ihm durch die Haare. „Nein.“
„Ach, komm schon. Zier dich nicht so.“
„Na schön. Marius … war meine große Liebe.“
Philip kichert schläfrig.
„Was gibt’s da zu lachen?“
„Das hört sich so dramatisch an. Wie in einer Ami-Schnulze.“
„Ist aber so. Warst du noch nie verliebt?“
„Nein.“
„Du bist zweiundzwanzig und warst noch nie verliebt?“, fragt Jakob.
„Immer, wenn mir andere davon erzählen, hört es sich voll stressig an. Ich hab keinen Bock auf Stress.“
„Du hast keine Ahnung, wovon du redest.“
Philip öffnet sein gesundes Auge. „Wenn Marius deine große Liebe war, was ist dann der andere … dieser Arne?“ Er scheint ein Gespür für unangenehme Fragen zu haben; Jakob fühlt sich plötzlich unbehaglich.
„Arne hat mir das Gefühl von Sicherheit gegeben“, antwortet er schließlich.
„Das können ein Bankkonto und eine beheizte Wohnung auch.“
„So hab ich das nicht gemeint.“
„Aber du liebst ihn nicht.“
Jakob schweigt. „Doch“, sagt er dann. „Aber anders.“
„Wie, anders?“
„Anders eben. Können wir jetzt schlafen? Ich muss morgen früh raus.“
„Reg dich ab, Mann“, brummt Philip und fährt schläfrig mit der Hand über seine Brust. „War nur ’ne Frage.“
Jakob knipst das Licht aus und hört ihn kurz darauf leise schnarchen. Er selbst liegt noch lange wach.
Arne wird durch die Abwesenheit eines Geräuschs wach: Der Wind hat sich gelegt. Die Zweige des Baumes vor seinem Fenster, die sich in der Nacht mit den Windböen gebogen haben, verharren jetzt reglos unter einem weiß
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