Wie Jakob die Zeit verlor
Koblenz pendeln?“, fragte Jakob.
„Ab nächstem Semester kann ich meine Kurse so wählen, dass ich nur noch drei Tage die Woche nach Koblenz muss. Die Bauarbeiten könnten wir an den Wochenenden machen …“
Jakob lachte gehässig auf. „Dann sind wir im Jahr 2000 wahrscheinlich fertig.“
„Quatsch. Nächstes Jahr im März oder April.“ Marius sah ihn bittend an. „Es wäre für uns.“
„Wir haben uns auch ohne diese Wohnung.“
„Es wäre für unsere Zukunft.“
Jakob hielt inne. Es war das erste Mal seit dem Wissen um seine Infektion, dass Marius einen Blick nach vorne wagte. Was, wenn er dieses Projekt brauchte, um Mut zu fassen? Wenn er mit seinen eigenen Händen etwas erschaffen musste, um an eine Zukunft zu glauben?
Jakob rutschte an der staubigen Wand herunter und setzte sich auf den Boden. Er brauchte diese Wohnung nicht, sein kleines Apartment im Belgischen Viertel gefiel ihm gut. Natürlich, es wäre schön, mit Marius zusammenzuleben. Der Gedanke war verführerisch. Er würde mit seinem Freund in einer Wohnung leben, mit diesem Mann, der alles für ihn tun würde. Aber war es auch die richtige Entscheidung? Er fühlte sich überrumpelt.
Nach eineinhalb Jahren hatte sich in ihre Beziehung so etwas wie Normalität geschlichen. Die Semesterferien und die Wochenenden waren für Marius bestimmt, an den übrigen Wochentagen war Jakob frei, das zu tun, was er wollte. Eigentlich fand Jakob diese Abmachung sehr angenehm. Er hatte die Geborgenheit einer Beziehung kombiniert mit der rastlosen Jagd eines schwulen Single-Daseins. Würden sie sich nicht schnell auf die Nerven fallen, wenn sie sich jeden Tag sahen, jede Nacht nebeneinander einschliefen? Würde sich ihre Liebe nicht abnutzen wie ein Paar häufig getragener Schuhe?
Schon jetzt hatten sie bei Weitem nicht mehr so oft Sex miteinander wie in den ersten Wochen und Monaten ihrer Beziehung. Auch gab es mittlerweile Dinge, die er an Marius nicht mochte, obwohl er sich das nur ungern eingestand: dass er beim Autofahren ein Vorurteil gegen Frauen am Steuer hatte; wie er mit dem Fingernagel die Zähne säuberte, wenn ein Essensrest in den Zahnzwischenräumen steckengeblieben war; dass er sich niemals beim Pinkeln setzte. Wie würde das sein, wenn Diskussionen um nicht weggebrachten Müll, schmutziges Geschirr und das Fernsehprogramm ihren Alltag bestimmten?
Auf einmal hockte Marius vor ihm. „Wenn die Dachbalken freiliegen … wir könnten einen Sling daran aufhängen und ich könnte dich ins Nirwana ficken.“
Wider Willen musste Jakob lachen. „Darum geht es nicht.“
„Das weiß ich.“ Marius legte einen Finger unter Jakobs Kinn und hob sein Gesicht, bis er in seine Augen sehen konnte. „Bitte.“
„Du willst das hier wirklich, oder?“ Er deutete mit einer vagen Handbewegung in den Raum hinein.
Marius nickte. „Ich brauche das. Es ist … ein Traum, den ich mir erfüllen will, bevor …“
„Sag so was nicht“, erwiderte Jakob leise.
„Doch.“ Marius war plötzlich sehr ernst. Jedes Mal, wenn Jakob in den Monaten nach ihrem Testergebnis auf das Thema Aids zu sprechen kam, hatte Marius rigoros abgeblockt, war manchmal sogar wütend geworden, als könnte er mit seinem Schweigen das Wissen um die Infektion verdrängen. Jakob erinnerte sich an einen Streit im Auto. Er hatte erneut versucht, Marius dazu zu überreden, seine Blutwerte kontrollieren zu lassen, hatte nicht locker gelassen, obwohl es offensichtlich war, dass Marius nicht darüber sprechen wollte. Ein Wort hatte das andere gegeben, bis Marius ihn angebrüllt und scharf abgebremst hatte, an die Seite gefahren war und ihn aus dem Wagen geworfen hatte. An der nächsten Ecke hatte er zwar auf ihn gewartet und sie waren sich schluchzend in die Arme gefallen, aber das Thema war nicht mehr erwähnt worden.
„Es geht nicht nur darum, mit dir zusammenzuziehen. Natürlich auch, aber …“ Marius seufzte. „Ich weiß nicht, ob … ob ich jemals ein Haus bauen werde, ob ich jemals dazu kommen werde, das Wissen, das ich mir in meinem Studium angeeignet habe, in die Tat umzusetzen. Wenigstens diese Chance hier will ich nutzen.“
„Und dann?“, fragte Jakob mit einem Kloß im Hals. „Wenn wir das geschafft haben, legst du dich ins Bett und wartest auf den Tod?“
„Wer weiß, was in einem Jahr ist“, erwiderte Marius und lehnte seinen Kopf an Jakobs Schulter.
*
Den Speicher auszubauen war anstrengender als alles, was Jakob bisher erlebt hatte. Es war körperliche
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