Wie Jakob die Zeit verlor
Knochenarbeit, unzählige Sand- und Zementsäcke in den fünften Stock zu schleppen, unhandliche Rigipsplatten durch das schmale Treppenhaus zu wuchten und am Ende eines Tages den gesammelten Schutt aus der Wohnung nach unten zum Container vor dem Haus zu tragen. Es gab Ärger mit den Nachbarn, die sich über den Schmutz beschwerten und über die Lautstärke, wenn Marius einer Wand mit der Bohrmaschine zu Leibe rückte. Es gab Frustrationen, wenn Handwerker ihre Termine nicht einhielten, Entsetzen, wenn sie auf ein Problem stießen, mit dem sie nicht gerechnet hatten – zum Beispiel den versotteten Kamin, den sie mit einer Bleiplatte abdecken mussten, um nicht die gesamte Außenwand abzureißen. Manchmal war Jakob nahe daran, alles hinzuwerfen. Da waren Tage, an denen er sich vor Muskelschmerzen nicht bewegen konnte, an denen er glaubte, den Baustaub kaum von seiner Haut abwaschen zu können. Und Marius schonte sich ebenso wenig wie er. Eines Tages, irgendwann im Dezember, während draußen Regenböen niedergingen und die Atemluft auf dem eiskalten Dachboden hing wie der morgendliche Dunst einer feuchten Wiese, entdeckte Jakob seinen Freund im Gebälk des Dachstuhls hockend, wie er mit den wuchtigen Schlägen eines Vorschlaghammers die alte, viel zu tief hängende Decke zertrümmerte. Jeder Schlag löste eine neue Staub- und Schmutzwolke aus, einen erneuten Hustenanfall von Marius.
„Mach eine Pause, ich hab Kaffee mitgebracht!“, rief Jakob durch den schmierigen Nebel aus Staub und Dreck.
„Jetzt nicht. Ich muss heute damit noch fertig werden“, röchelte Marius und hustete weiter. „Die Dachdecker kommen am Montag.“
„Wo ist dein Mundschutz?“
„Es war keiner mehr da. Ich hab vergessen, neue zu holen.“
„Bist du bescheuert? Du atmest doch den ganzen Dreck ein!“
„Nicht so schlimm. Geht schon!“ Ein neuer Schlag, der einen Teil der Decke nach unten beförderte. Grauweißer Putz stob auf, Mörtel bröckelte herunter.
„Marius! Schluss jetzt!“ Jakob stieg auf die Leiter und zerrte am Unterschenkel seines Freundes, bis dieser unwirsch nachgab und herunterkletterte. Sein Gesicht und seine Haare waren weiß vor Baustaub, und er atmete schwer zwischen weiteren Hustenanfällen.
„Das geht so nicht“, sagte Jakob. „Du machst dich kaputt!“ Erst jetzt bemerkte er Marius’ hohle Augen und seine zitternden Beine.
Marius ließ sich auf den Boden sinken und hielt sich die Seiten. „Das … das ist so anstrengend“, keuchte er. Aus den Taschen seiner Hose wühlte er eines seiner altmodischen Stofftaschentücher und hustete hinein. „Scheiße“, krächzte er plötzlich. Mit großen Augen zeigte er Jakob den roten Fleck, der auf dem weißen Taschentuch zu sehen war.
„Wo … wo kommt das Blut her?“, fragte Jakob bestürzt.
„Hat nichts zu sagen“, wehrte Marius noch immer kurzatmig ab. „Wahrscheinlich ist durch das Husten eine Kapillare in den Bronchien geplatzt.“
Jakob schwieg. Dann brüllte er plötzlich: „Verdammt!“ und trat mit einem Fuß gegen die Wand, verschüttete den Kaffee in seiner Hand. „Ich hasse diese Wohnung!“
„Jakob …“
„Und wenn es nicht nur eine dämliche Kapillare in deinen Bronchien ist? Wenn es was Ernstes ist? Wenn du dich hier buchstäblich zu Tode schuftest?“
„Aber …“
„Ist dir schon mal aufgefallen, dass sich unser ganzes Leben nur noch um diese verdammte Baustelle dreht? Seit drei Monaten verbringen wir hier jede freie Minute. Wir schuften und rackern und sind am Abend so platt, dass wir zu nichts anderem mehr Lust haben! Wir reden nur noch über diese Wohnung, was wir kaufen, was wir als Nächstes erledigen müssen. Ich träume nachts schon von diesen schwarzen Plastikeimern, mit denen wir den Schutt runter- und den Zement raufschleppen! An der Uni bin ich so müde, dass ich in den Vorlesungen einschlafe! Ich bin so fertig, dass ich mir nicht mal mehr einen runterhole. Von Sex ganz zu schweigen! Weißt du noch, wie das ist, mit mir in die Kiste zu gehen?“
„Wir tun das doch für uns“, wandte Marius ein.
„Nein!“, erwiderte Jakob verärgert. „Du tust das, um nicht an deine Infektion denken zu müssen. Das hier ist pure Verdrängungstaktik!“
„Ja, natürlich“, fuhr ihn Marius an. „Jakob hat die Weisheit mit Löffeln gefressen! Jakob ist Experte für Aids, nur weil er brav alle drei Monate zum Doktor rennt! Ich gehe eben anders mit meiner Infektion um als du, und wenn es dir nicht passt: Da ist die
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