Wie Jakob die Zeit verlor
Mund offen stehen.
„Jakob hat das nie erwähnt?“, seufzt Katrin. „Vielleicht habe ich schon zu viel gesagt.“
„Aber warum hat er Marius verlassen?“
Doch Katrin schüttelt den Kopf und legt ihre Hand auf Arnes. „Es tut mir leid. Aber das musst du Jakob selbst fragen.“
September 1987
Am Vorabend der Landtagswahl in Schleswig-Holstein wird ein Bericht des Nachrichtenmagazins Der Spiegel bekannt, in dem der Pressereferent in der Kieler Staatskanzlei, Reiner Pfeiffer, behauptet, er habe im Auftrag des CDU-Ministerpräsidenten Uwe Barschel eine Verleumdungskampagne gegen den SPD-Spitzenkandidaten Björn Engholm geführt. Nach und nach wird das ganze Ausmaß der Barschel-Affäre bekannt, die wochenlang die Republik erschüttert und schließlich mit dem Rücktritt und dem Selbstmord Barschels im Oktober 1987 endet. Die genauen Umstände seines Todes sind bis heute jedoch nicht vollständig aufgeklärt.
Erich Honecker, Staatsratsvorsitzender der DDR und Generalsekretär der SED, kommt zu einem fünftägigen Arbeitsbesuch in die Bundesrepublik. Ergebnis dieses Besuchs ist die Festschreibung des Status quo in den Beziehungen der beiden deutschen Staaten.
Mit überwältigender Mehrheit lehnt der Bundesrat den Maßnahmenkatalog Bayerns bei der Bekämpfung von Aids ab. Damit ist Peter Gauweilers Konzept, die harte Linie Bayerns auf den Bund zu übertragen, gescheitert. Stattdessen unterstützt der Bundesrat die Linie der Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth, die auf Aufklärung und Prävention setzt.
In einer Brandrede beschuldigt der Aids-Aktivist Larry Kramer die weiße, Männer-dominierte Mittelschicht in Amerika einer Mitschuld an der Ausbreitung von Aids. Er argumentiert, dass das Desinteresse der Politik und die Verweigerung homosexueller Gleichberechtigung den Rückzug schwuler Männer in eine identitätsstiftende Promiskuität begünstigt hat. Zu diesem Zeitpunkt gibt es allein in den USA, die bisher am stärksten von der Aids-Epidemie betroffen sind, über 25.000 Tote, etwa Dreiviertel von ihnen homosexuelle Männer.
Im Herbst findet die bis dahin größte Demonstration von Lesben und Schwulen in den USA statt: 650.000 Menschen protestieren beim „March on Washington“ gegen die Aids-Politik der Reagan-Administration.
Die Reaktion der fundamentalistischen Rechten lässt nicht lange auf sich warten: Jesse Helms, erzkonservativer Senator der Republikaner, bringt ein Gesetz durch den Kongress, das HIV-infizierten Menschen die Einreise in die USA verweigert. Das Einreiseverbot wird erst 2010 von Präsident Obama aufgehoben. Gleichzeitig verbietet ein Gesetz auf Helms’ Initiative hin die finanzielle Unterstützung aller Aids-Präventionsmaßnahmen, die Homosexualität direkt oder indirekt befürworten oder unterstützen. Damit torpediert der Gesetzgeber entscheidend die Safer-Sex-Aufklärung für Schwule und Lesben.
In Washington wird erstmals der Aids-Quilt ausgestellt, ein Kunstwerk aus Stoff, bestehend aus vielen, aneinandergehefteten Quadraten, die an die bisherigen Aids-Toten erinnern sollen und von Angehörigen und Freunden in liebevoller Kleinarbeit angefertigt wurden.
In Deutschland befindet sich Desireless mit „Voyage, Voyage“ an der Spitze der Charts; in Großbritannien ist Rick Astley mit „Never Gonna Give You up“ wochenlang die Nummer Eins.
„Das ist es?“, fragte Jakob zweifelnd.
Marius wirkte enttäuscht. „Du magst es nicht.“
„Nein, es ist nur …“ Er wusste gar nicht, wo er anfangen sollte. Er sah sich auf dem staubigen Speicher des Altbaus um, registrierte die beklemmend niedrigen Decken, die mit Spinnweben verhangenen, schmalen Taubenschläge, die kaum Licht hereinließen. Mäusekot auf dem Boden deutete darauf hin, dass sie nicht die Einzigen waren, die sich hier niederlassen wollten. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie hieraus eine Wohnung für uns werden soll. Es gibt noch nicht mal ein Bad.“
Marius rollte den Plan aus, den er auf seinem Zeichenbrett entworfen hatte, und wies auf einen Punkt. „Okay, man braucht ein bisschen Fantasie“, gab er zu. „Aber da hinten, die linke Ecke.“ Dabei zeigte er auf drei Wäscheleinen, die nebeneinander im Raum gespannt waren und an denen ein vergessenes Paar Strümpfe baumelte. „Da kommt das Bad hin. Eine Dusche, ein Waschbecken, ein Klo. Es wird nicht groß, vielleicht vier Quadratmeter, aber für uns reicht es doch.“ Er sah Jakob hoffnungsvoll an. „Aus irgendeinem Grund existiert da schon ein
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