Wie Jakob die Zeit verlor
Tür!“
„Schön!“, sagte Jakob und schüttelte den Kopf. „Prima. Aber glaub ja nicht, dass ich an deinem Bett stehe und heule, wenn es so weit ist! Das hast du dir selbst zuzuschreiben!“
Zornig drehte er sich um, Tränen der Wut in den Augen. Seine Hand war schon an der Türklinke, als er endlich ein Räuspern hörte.
„Lauf nicht weg, bitte. Wenn … wenn wir die Wohnung fertig haben, dann gehe ich zum Arzt“, gab sich Marius geschlagen. „Versprochen. Aber du musst mitkommen. Ich … ich kann das nicht alleine.“
„Es ist doch nichts dabei“, erwiderte Jakob. „Meine letzten Ergebnisse waren stabil. Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Und man gewöhnt sich daran. Ehrlich.“
Marius ließ den Kopf hängen. „Daran werde ich mich nie gewöhnen. Du bist anders als ich. Du bist stärker. Du wirst überleben.“
„Hör auf!“, schrie Jakob ihn an. „Ich will das nicht hören! Das ist doch Schwachsinn! Du kannst doch nicht aufgeben, bevor du überhaupt angefangen hast zu kämpfen!“
Marius stand auf und lehnte sich an Jakob. „Halt mich fest“, flüsterte er.
Jakob spürte, wie seine Hände Marius in eine Umarmung zogen, fühlte, wie seine Finger mechanisch durch seine Haare strichen, bemerkte, wie seine Lippen beruhigende Floskeln murmelten. Und wie seine Gedanken die ersten Steine einer Mauer zwischen sich und Marius aufbauten. Er musste vorbereitet sein.
Und dann, Mitte März des folgenden Jahres, war die Wohnung tatsächlich fertig. Es war merkwürdig, ein strahlend weißes, blitzendes Waschbecken und die Duschwanne an den Plätzen zu sehen, wo vorher nur unverputzte Wände gewesen waren, auf weichem Teppich zu laufen, wo vorher nur nackter, kalter Estrich gelegen hatte. Es war ungewohnt, auf neue Tapeten und Bilder zu blicken, wo vorher Schmutz gelegen und Spinnweben gehangen hatten. Es grenzte fast an ein Wunder, die Wärme der Heizkörper zu spüren, wo zuvor eisige Zugluft durch ungedämmte Dachschindeln gefegt war. Als Jakob und Marius die letzten Möbel geradegerückt hatten, die letzten Gläser und Tassen aus den Umzugskartons geräumt hatten – inklusive des alten Porzellans mit Zwiebelmuster, das Marius‘ Mutter ihrem Sohn aufgedrängt hatte –, starrten sie sich ungläubig an.
„Wir haben es tatsächlich hinbekommen“, sagte Jakob. „Unfassbar. Ich bin stolz auf uns. Geht es dir auch so?“
Marius hing erschöpft auf dem Sofa, das sie sich von ihrem letzten Geld gekauft hatten. „Ich bin vor allen Dingen müde“, murmelte er. „Ich glaube, ich krieg eine Erkältung. Ich muss ins Bett.“
Es dauerte zehn Tage, bis er das Bett wieder verließ. Schüttelfrost und Fieberschübe suchten seinen Körper heim, quälender Husten, Durchfälle und Gliederschmerzen. Jakob machte Wadenwickel, kochte Tee und löffelte Suppe in Marius’ Mund, während er versuchte, seine Angst zu verbergen.
„Es ist nur die Erschöpfung“, sagte er, um sie beide zu beruhigen, und hielt ein distanziertes Lächeln für seinen Freund parat, eines, das Pfleger für ihre Patienten hervorholten. „Du hast dir in den letzten Monaten zu viel zugemutet.“
„Was hältst du von einer Katze?“, fragte Marius matt. „Ich meine, wäre das nicht passend? Dann wären wir so was wie eine richtige Familie.“
„Ich hab gehört, man soll bei einer HIV-Infektion keine Katze halten. In dem Kot sind irgendwelche Erreger, die eine Toxoplasmose verursachen können, wenn man mit ihnen in Berührung kommt.“
„Dann ziehen wir uns eben Gummihandschuhe an, wenn wir das Katzenklo saubermachen. Bitte!“
Jakob atmete innerlich auf. Alles würde gut werden. Bestimmt würde alles gut werden. „Ich wollte schon immer eine Katze haben“, antwortete er.
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Jakob versucht, freundlich zu bleiben. „Wir haben keine Schnittblumen“, bedauert er. „Gehen Sie in die nächste Querstraße. Da gibt es einen Blumenladen.“
„Aber Sie sind doch eine Gärtnerei!“ Die schlaksige, gehetzt wirkende Kundin, die mit einem grauen Pudel in ihrer Gefolgschaft das Geschäft betreten hat, sieht ihn entrüstet an.
„Eben“, erwidert Jakob und verzieht das Gesicht zu einem hoffentlich zuvorkommenden Lächeln. „Eine Gärtnerei. Wir haben Stauden, Gräser, Gemüsepflanzen, Sträucher, kleine Bäume, Balkonpflanzen. Keine Schnittblumen.“
„Bitte. Dann werde ich die zehn Euro für einen Blumenstrauß eben bei Ihrer Konkurrenz anlegen“, erwidert die Frau schnippisch und dreht sich auf dem Absatz
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