Wie Jakob die Zeit verlor
Erste eine ideale, wenn auch etwas trostlose Zuflucht. Solange Arne sich nicht überwinden kann, Jakob gegenüberzutreten. Solange er nicht weiß, was er sagen oder tun würde.
Auf der Fahrt zurück hat er beschlossen, erst einmal hier seine Zelte aufzuschlagen. Das ist kostensparender, als in einem Hotel zu schlafen, wenn auch etwas spartanischer. Die Wände sind kahl, an den Decken hängen nackte Glühbirnen, es gibt keinen Fernseher und kein Radio. Allerdings funktioniert zumindest der Kühlschrank, sobald Arne ihn eingeschaltet hat. Warmes und kaltes Wasser laufen auch, ebenso die Heizung. Im Keller, den er schon lange hat ausmisten wollen, findet er in einem alten Schrank sogar Decken und Kissen. Er riecht misstrauisch den Muff, der ihm in die Nase steigt, als er die Decken aus dem Schrank holt, und würde sie am liebsten in die Ecke werfen. So weit ist es mit ihm gekommen! Es ist alles Jakobs Schuld. Dann nimmt er die Decken doch, trägt sie nach oben und richtet sich notdürftig ein.
Wenn er aus dem Küchenfenster blickt, kann Arne nur die Füße und die Unterschenkel der Leute sehen, die auf dem Bürgersteig vorbeihasten: weiße Socken in Turnschuhen, dunkle Socken in schwarzen Halbschuhen, Damensöckchen in pinkfarbenen Ballerinas. Er hört das Klackern von Pumps, das zögernde Aufsetzen eines Gehstocks, das leise Surren eines elektrobetriebenen Rollstuhls. Jemand lässt achtlos eine leere Zigarettenschachtel fallen und sie landet im Laub des vergangenen Herbstes, das sich im Schacht vor dem Fenster türmt. Vielleicht sollte er ein Gitter über dem Schacht anbringen lassen. Vielleicht sollte er dem unachtsamen Zeitgenossen hinterherrennen und sich mit ihm über Umweltverschmutzung unterhalten. Vielleicht sollte er gar nicht hier sein.
Arne hat Hunger, deshalb geht er in der Pizzeria schräg gegenüber essen, nachdem er seine Tasche ausgepackt hat. Katrin hatte ihm für die Rückfahrt ein paar Brote geschmiert. Abgesehen davon, dass ihn die Geste berührt hat und er an seine Schulzeit erinnert wurde, konnte er damit nicht viel anfangen, denn das Graubrot war mit Nüssen versetzt, und er reagiert allergisch auf alle möglichen Nusssorten. Jakob hätte das gewusst – etwas, das Arne schmerzlich bewusst wurde, als er im Zug die Alufolie entfernte. Wenn Jakob Brot kauft, achtet er immer darauf, dass er keines der vielen Körnerbrote nimmt.
Nach dem Essen holt Arne seinen Wagen aus der Werkstatt und ärgert sich über die horrenden Kosten, die die Inspektion verursacht hat. Immerhin, als er die ersten Meter gefahren ist, bemerkt er, dass das komische Geräusch, das in letzter Zeit bei jedem Bremsvorgang auftrat, verschwunden ist. Danach macht er sich auf den Weg in den Kölner Süden und hält eine halbe Stunde später auf dem Parkplatz einer Seniorenresidenz.
Er hat keine Ahnung, was er mit einem Besuch bei Margarete Janssen eigentlich bezweckt, aber als die Idee dazu ihm im Zug gekommen war, hat sie sich dort festgesetzt und ihn nicht mehr losgelassen. Jakob hat vor einigen Jahren einmal beiläufig erwähnt, in welchem Altersheim Marius’ Mutter untergebracht ist, und aus irgendeinem Grund hat Arne den Namen behalten. Er erinnert sich auch noch an den Ausdruck von Widerwillen, der über Jakobs Gesicht gehuscht war, als er über die Frau sprach. Bis dahin war Arne gar nicht klar gewesen, dass Jakob nach Marius’ Tod eine Zeitlang noch sporadischen Kontakt zu ihr hatte.
„Sie mag mich nicht und ich sie nicht“, hatte Jakob gesagt.
„Aber warum triffst du dich dann noch mit ihr?“
Jakob hatte mit den Schultern gezuckt. „So eine Art Verpflichtung“, hatte er gemurmelt. „Aber jetzt, wo sie im Altersheim ist … ich gehe da nicht mehr hin.“
Im Zug hat Arne den Standort des Hauses auf seinem Laptop gegoogelt, doch nun, im Angesicht des dreistöckigen, weißgestrichenen und mit kleinen Balkonen versehenen Neubaus, fällt ihm ein, dass Margarete Janssen in der Zwischenzeit gestorben sein könnte. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass sie tot ist. Und was, zum Teufel, will er von ihr? Arne lehnt seinen Kopf auf das Lenkrad und stöhnt.
Aber Marius’ Mutter lebt, wie er an der Rezeption erfährt, wo er sich als Freund der Familie ausgibt. Sie ist auf der Pflegestation untergebracht, und natürlich, so die grauhaarige Dame hinter dem Tresen, kann er sie besuchen. Allerdings dürfe er nicht allzu viel erwarten, erklärt sie in einem Nachsatz und sieht ihn bedeutungsvoll über den Rand ihrer
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