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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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Lesebrille an. Arne traut sich nicht, nachzufragen, was mit dieser Andeutung gemeint ist, und während er mit dem Aufzug in den ersten Stock fährt, stellt er sich eine bettlägerige, todkranke Frau vor, die abgemagert und geschrumpft in einem viel zu großen Bett liegt und apathisch an die Decke starrt.
    Doch Margarete Janssen, mittlerweile in den Neunzigern, sitzt auf einem bequemen Korbstuhl am Fenster ihres Zimmers, bekleidet mit einem fliederfarbenen Kostüm, das wie ein schlaffer Sack auf ihren schmalen Schultern hängt, die Füße stecken in dunklen Pantoffeln. Ihr Gesicht und ihre Hände sind voller Runzeln und von Altersflecken übersät, und unter den dünnen, weißen Haaren schimmert die Kopfhaut hervor. Die bleiche Haut und der ausgedörrte Körper lassen sie wie eine alte, zerbrechliche Puppe aussehen. Als Arne nach mehrmaligem Klopfen eintritt, nesteln ihre Finger ruhelos an einem goldenen Ring an ihrer rechten Hand. Im ersten Moment kann er nicht nachvollziehen, wieso sie auf der Pflegestation wohnt. Das ändert sich, als er sich zögernd vorstellt.
    „Frau Janssen, ich bin …“
    „Marius!“ Ihre dünne, aber hoch erfreut klingende Stimme unterbricht ihn, und die wässrigen, von roten Äderchen durchzogenen Augen beginnen feucht zu glänzen. „Wie schön.“ Sie versucht matt, aus dem Korbstuhl nach oben zu kommen, und fällt wieder zurück in den Sitz. „Dann kann ich ja Kaffee aufsetzen und den Kuchen anschneiden. Ich weiß gar nicht, wo ich das Messer …“ Ihr Blick irrt suchend durch das Zimmer, bleibt verständnislos an dem Pflegebett zu ihrer rechten Seite hängen und an dem kleinen Tisch vor ihr, auf dem ein zierliches Bouquet aus weißen Plastikrosen steht. „Holst du es aus der Küche? In der zweiten Schublade, unter dem Silberbesteck.“
    „Frau Janssen … ich bin nicht Marius“, erwidert Arne. „Mein Name ist Arne Konitzer. Ich bin Jakobs Freund … Jakob Brenner?“
    Zitternde Finger ziehen ein im linken Ärmel des Kostüms verstecktes Stofftaschentuch heraus und betupfen die feuchten Augen. „Nicht Marius …“ Die Freude in der Stimme ist wie weggewischt; Margarete Janssen klingt plötzlich verloren.
    „Nein. Ihr Sohn … er ist gestorben. Erinnern Sie sich nicht?“ Arne macht ein paar Schritte ins Zimmer hinein. Zögernd nimmt er auf dem einzigen anderen Stuhl Platz, den es gibt, gegenüber von Margarete Janssen.
    „Das ist lächerlich“, entrüstet sie sich. „Woran sollte Marius gestorben sein? Er war kerngesund und … bis …“ Ihre Stimme verliert sich in einem undeutlichen Gemurmel. „Schweinkram“, stößt sie dann plötzlich hervor, und Arne zuckt zurück. „Sind Sie auch einer von denen?“
    „Einer von welchen? Oh …“ Arne wird rot und ärgert sich sofort darüber. „Ja“, sagt er. „Das bin ich in der Tat. Genauso wie Marius.“ Margarete Janssen presst die Lippen zusammen und dreht sich weg von ihm, sieht demonstrativ aus dem Fenster.
    Ihr einziges persönliches Möbelstück in diesem Zimmer ist eine monströse, schwere Standuhr, die laut tickend die verstreichende Zeit zählt und die Stille füllt, die sich über den Raum senkt. Arne spürt eine Art Beklemmung in sich aufsteigen, als gäbe es hier nicht genug Atemluft für zwei Personen. Auf dem Tisch am Fenster, neben den Plastikblumen und halb versteckt von der Gardine, entdeckt er einige Fotografien, gerahmt in staubige, abgegriffene Silberrahmen. Ein Foto, das wohl ihren Mann darstellt, und drei Bilder, auf denen Marius zu sehen ist. Das erste zeigte ihn mit einem Schulzeugnis in der Hand; sein Körper sieht noch unfertig und pubertär aus, und sein Gesicht weist am Kinn Pickel auf; auf dem zweiten ist er noch jünger, ein Teenager mit Schlaghosen und einem Parka, wie man sie in den siebziger Jahren trug. Das dritte Foto … Arne stutzt. Es muss kurz vor Marius’ Tod aufgenommen worden sein: Ernst sieht er auf einen Punkt jenseits der Kamera und dreht den Kopf ein wenig zur Seite, als wollte er der Kamera einen Blick auf seine rechte Gesichtshälfte verweigern. Doch der Schnappschuss hat ihn überrumpelt, und auch wenn Arne kaum etwas über Marius’ Leidensweg weiß, so kann er doch die rotbraunen Flecken an der Schläfe einordnen, weiß, was sie zu bedeuten haben. Doch nicht das, was auf dem Foto zu sehen ist, macht es für Arne so interessant, sondern das, was fehlt. Das Bild ist in der Mitte durchgeschnitten, eine Schere hat eine zweite Person auf dem Foto entfernt, nur noch der

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