Wie Jakob die Zeit verlor
rechte Arm um Marius’ Schulter ist zu erkennen. Und jetzt entdeckt Arne auch einige Dinge im Hintergrund des Bildes: ein paar dunkle Holzbalken unter einer spitz zulaufenden, weiß gestrichenen Decke, am linken Bildrand, etwas verschwommen, eine schwarzweiß gesprenkelte Katze, die auf einem schwarzen Sofa liegt. Sie sieht Clinton zum Verwechseln ähnlich. Die Aufnahme muss in der gemeinsamen Wohnung von Jakob und Marius entstanden sein, die Wohnung, von der er bis vor wenigen Tagen nichts wusste.
„Warum?“, fragt Arne. „Warum haben Sie Jakob aus dem Foto entfernt?“ Seine Stimme zittert vor Empörung; die Verunstaltung des Fotos kommt ihm wie eine Schändung von Jakobs Vergangenheit vor, ein Versuch, die Geschichte umzuschreiben.
Margarete Janssen lächelt spitz; es ist das herablassende Lächeln eines Siegers über den Besiegten. „Er gehört da nicht hin“, sagt sie und sie klingt plötzlich sehr viel klarer als vorher.
„Sie irren sich“, entgegnet Arne.
Margarete Janssens Hände nesteln erneut ruhelos an dem Ring an ihrem Finger, und ihre Augen, die eben noch hell und stechend waren, trüben sich wieder ein, hasten ruhelos durch den trostlosen Raum. „Alles weg“, murmelt sie. „Friedhelm, Marius … kommen Sie mich holen?“
„Bitte?“
„Ich möchte nach Hause. Sind Sie gekommen, um mich zu holen?“
„Das hier ist Ihr Zuhause“, antwortet Arne.
Marius’ Mutter lacht ungläubig auf. „Aber nein, junger Mann!“ Sie runzelt die Stirn. „Ich wohne …“ Sie sieht ihn hilfesuchend an. „Wo ist Marius? Ich hatte ihm gesagt, er soll nicht so spät von der Schule … nicht im Dunkeln. Heutzutage weiß man nie … es laufen so viele Ganoven auf der Straße herum … sind Sie ein Freund von Marius?“
Gegenwart und Vergangenheit scheinen sich in diesem Zimmer in ständiger Bewegung zu befinden, überlappen und überschneiden sich, bis die Grenzen verwischen und nicht mehr auszumachen sind.
Arne bringt es nicht über sich, ihr zum zweiten Mal zu sagen, dass ihr Sohn nicht mehr lebt. „Nein“, sagt er und entscheidet sich für einen Kompromiss. „Ich habe ihn leider nie kennengelernt.“
Margarete Janssen nickt und lehnt sich vertraulich nach vorne. „Wussten Sie, dass er … Sie wissen schon … vom anderen Ufer kommt?“ Sie macht ein Gesicht, als hielte sie etwas Unappetitliches zwischen zwei Fingern und betrachtete es angeekelt.
Ihr Gespräch dreht sich im Kreis. Was auch immer Arne hier bei Marius’ Mutter zu finden hoffte, es ist verloren gegangen im Strudel ihrer verwirrten Gedanken. Weiter denn je scheint er entfernt von Antworten. Er steht auf und verabschiedet sich.
„Der andere“, sagt sie plötzlich, als er schon an der Tür ist, „der hat mir Marius weggenommen.“ Arne hört die Verbitterung in ihrer Stimme. „Und dann …“ Er dreht sich um und sieht, wie ihre Hand wieder zu dem Stofftaschentuch im Ärmel greift und die Augen betupft. „Und dann war er tot.“
„Sie geben Jakob die Schuld an Marius’ Tod?“, fragt Arne ungläubig, aber Margarete Janssen hat seine Anwesenheit schon vergessen und ihren Blick wieder aus dem Fenster gerichtet. Arne drückt die Klinke herunter und schließt leise die Tür hinter sich.
Marius lehnt über seinem Zeichenbrett, ganz vertieft in seine Arbeit. Wie immer, wenn er sich auf etwas konzentriert, fährt seine Zungenspitze über seinen Mundwinkel, und ein Grübchen bildet sich zwischen seinen zusammengezogenen Augenbrauen. Neben ihm liegen griffbereit Zirkel und diverse Lineale, ein Bleistift. Eine gleißende, nachmittägliche Frühlingssonne fällt durch das schräge Dachfenster auf seinen Arbeitsplatz, Staubfussel tanzen in ihrem Lichtkegel. In der Wohnung riecht es noch immer nach frischer Farbe, obwohl sie schon drei Wochen zuvor eingezogen sind. Jakob lümmelt sich ausgestreckt auf dem Teppich, die Ellenbogen aufgestützt, schlürft eine Cola und blättert durch die neueste Ausgabe der Zeit, während Truman, der schwarzweiß gefleckte junge Kater, der seit Neuestem ihr Leben teilt und sich auf den Zeichentisch gehockt hat, jede Handbewegung von Marius mit Argusaugen beobachtet. Es ist ganz still, nur das kratzende Geräusch von Bleistift auf Papier unterbricht die Ruhe.
Dann, plötzlich, explodiert die Stille in tösendem Chaos. Trumans Pfote schnellt nach vorne und hangelt nach dem Radiergummi neben Marius’ Arm. Der Radierer springt vom Tisch und wird tollpatschig von Truman verfolgt. Im Eifer des Gefechts
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