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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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Pflege zu seinen Eltern gegeben, kurz bevor Marius ins Krankenhaus gekommen ist. Weil ich der Meinung war, keine Zeit zu haben, mich ausreichend um ihn zu kümmern. Um den Kater. Dann habe ich das Radio eingeschaltet, habe die Stimme des Moderators gehört und fühlte mich ein bisschen weniger einsam.
    Ich hatte die Tage zuvor eigentlich ständig geheult, immer wieder, bei jeder Kleinigkeit habe ich mich quasi aufgelöst, gebadet in einem Ozean der Trauer. Aber jetzt, beim Aufwachen, ausgerechnet vor Marius’ Beerdigung, wusste ich, dass ich nicht eine Träne weinen würde. Und gleichzeitig hatte ich keine Ahnung, wie ich diesen Tag durchstehen sollte. Ich erinnere mich daran, vor dem Kleiderschrank zu stehen und mit der Entscheidung, was ich anziehen sollte, völlig überfordert zu sein. Und dann war da auf einmal so ein warmes Gefühl um mich herum, und ich wusste genau, dass Marius mich von hinten umarmt, mich festhält.
    Ich konnte es nicht ertragen. Es war einfach zu viel. Ich bin ausgerastet und habe die Luft angeschrien. „Geh weg!“, habe ich gebrüllt. „Ich kann dich nicht sehen, ich kann dich nicht hören, ich kann dich nicht riechen! Und ich kann dich vor allen Dingen nicht anfassen! Also verschwinde! Sonst schaffe ich das alles hier nicht!“
    Aber wie gesagt, wahrscheinlich waren es nur meine überstrapazierten Nerven, denen ich auf den Leim gegangen bin.
    Jakob wischt sich die Tränen aus den Augen und lässt den Kuli fallen. Genug. Es ist genug. Er ist erschöpft, als hätte er einen ganzen Acker mit feuchter Erde umgegraben. Mehr kann er seiner Therapeutin nicht bieten. Und er hat schon mehr preisgegeben, als er eigentlich wollte. Nicht alles natürlich. Nicht das mit Stefan und nicht, wie es sich angefühlt hat, als Marius gestorben ist. Und dass es seine, Jakobs, Schuld ist, dass Marius nicht mehr lebt.

III. Schatzgräber
    And if I only could
    I’d make a deal with God
    And I’d get him to swap our places
    Kate Bush – Running up that Hill (A Deal with God)

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    Feuchte Luft kriecht in der Nacht aus dem Flussbett und verhüllt die Stadt mit dünnen Nebelschwaden. Wie tanzende Irrlichter flackern die Straßenlaternen im Dunst, verschwinden und tauchen wieder auf. Arne bläst frierend in seine Hände; eigentlich würde er mit einem solchen Wetter im Herbst rechnen, aber dieser Frühling ist launisch. Er tröstet sich damit, dass für die kommenden Tage wärmeres Wetter vorhergesagt wurde.
    Die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, beobachtet er das Licht in der Wohnung unter dem Dach. Es ist nur eine indirekte Lichtquelle, kaum wahrnehmbar, also muss Jakob im Arbeitszimmer sein, das nach hinten liegt. Er muss die Tür des Zimmers geöffnet haben, sodass der Schein seiner Lampe am Schreibtisch bis zu den Fenstern der Straßenseite quillt. Arne fragt sich, was Jakob um ein Uhr nachts am Schreibtisch macht, normalerweise geht er spätestens um Mitternacht schlafen. Und er fragt sich, was um alles in der Welt in ihn selbst gefahren ist. Warum er wie ein Spitzel in einem schlechten Hollywoodfilm zu nachtschlafender Zeit in den Schatten des gegenüberliegenden Hauses gelehnt seine eigene Wohnung ausspioniert; warum er wie ein liebestrunkener Tölpel darauf hofft, einen heimlichen Blick auf seinen Freund zu erhaschen. Von dem er sich doch getrennt hat. Weil er es nicht mehr ausgehalten hat. Eine Welle der Wut und Frustration brandet plötzlich durch seinen Körper, und er tritt gegen eine Blechdose, die mit lautem Scheppern vom Bürgersteig rollt. „Verdammt, Jakob!“, brüllt er. „Du schuldest mir was!“
    Es wäre so einfach, den Schlüssel aus der Hosentasche zu kramen, die Straßenseite zu wechseln und die Tür aufzuschließen. Die Treppenstufen hinaufzusteigen und zu sagen: „Ich bin zurück.“ Doch Arne vergräbt die Hände in der Jackentasche und macht sich geschlagen auf den Weg zu seinem Apartment. Morgen wird er wieder zur Arbeit gehen. Er ist lange genug fort gewesen, zu lange, um ohne Erklärungen weiter wegzubleiben. Eigentlich bräuchte er einen Anzug fürs Büro, ein frisches Hemd, eine Krawatte. Diese rein praktischen Erwägungen waren der Grund, warum er sich auf den Weg zu seiner Wohnung gemacht hat, vor drei Stunden. Er hatte sich vorgenommen, nur ganz kurz vorbeizuschauen, ein paar Sachen zu holen und wieder zu gehen und Jakob in dieser Zeit einfach zu ignorieren. Aber als er das Licht im Arbeitszimmer gesehen hat, ist er von seinem Mut verlassen worden, hat sich

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