Wie Jakob die Zeit verlor
Hilfe um, aber wenn man Unterstützung braucht, ist natürlich weit und breit niemand zu finden. Stand hier nicht immer irgendwo eine Polizeistreife?
„Rote Haare. Wollte ich nur gesagt haben. Steh ich drauf.“ Der Junge sieht ihn mit großen Kulleraugen an und wuschelt sich durch seinen ungekämmten Haarschopf. Arne ist mittlerweile fast sicher, dass er angemacht wird.
„Ich könnte dein Vater sein“, wagt er sich ein Stück aus der Deckung.
„Bist du aber nicht.“ Der Junge stutzt, weicht einen Schritt zurück und mustert Arne mit gespieltem Ernst. „Oder? Weil … ich kenn meinen Alten nicht. Also theoretisch …“
„Nein“, sagt Arne mit fester Stimme. „Nicht mal theoretisch.“
„Gut!“, sagt der Junge und klatscht erfreut in die Hände. „Dann steht ’ner Runde Ficken ja nichts mehr im Weg.“
„Bitte?“
„Ficken, Mann! Wenn ich gesoffen hab, bin ich immer rattig.“
„Aber …“
Der Junge zieht genervt einen Flunsch. „Boah, komm schon! Ich raff das nicht! Wieso zieren sich Männer über vierzig immer so? Nur ’n bisschen fun , Alter. Ist doch nichts dabei!“
„Du riechst nach Kotze“, wendet Arne ein. Er fühlt sich wie in einem absurden Theaterstück, einem Drama von Samuel Beckett, bei dem man keine Ahnung hat, wohin der nächste Satz eines Dialoges führt. Dann plötzlich fällt ihm ein, dass es hier in der Altstadt einige Stricherkneipen gibt, und er zieht die Verbindung zu dem Blondschopf, der vor ihm steht. „Du willst Geld dafür!“, sagt er überrascht. Natürlich, wie konnte er so dumm sein! Bis gerade eben hat er sich tatsächlich ein wenig geschmeichelt gefühlt, aber jetzt ist er nur noch angewidert. „Nein, danke.“
Der Junge kramt in seiner Hosentasche, zieht ein paar zerknitterte Geldscheine heraus und hält sie ihm wütend vors Gesicht. Arne macht zwei Fünfziger aus, mehrere Zwanziger und einen Zehneuroschein. „Hier, siehst du das?“, fährt ihn der Junge an. „Ich brauch deine Kohle nicht. Ich wollte einfach nur … ach, Scheiße, vergiss es!“
Arne hat prompt ein schlechtes Gewissen. „Tut mir leid. Ich dachte nur, weil …“
„Ja, ja“, brummt sein Gegenüber noch immer ungehalten. „Du bist doppelt so alt wie ich, und deshalb denken Typen in deinem Alter sofort, dass ich sie ausnehmen will. Schon mal was von ’nem Daddy-Komplex gehört?“
Ganz gegen seinen Willen muss Arne lachen. Der Junge besitzt unbestreitbar Charme. „Du riechst trotzdem nach Kotze.“
„Ich kann mir bei dir zu Hause den Mund ausspülen.“
„Ich bin … gerade erst eingezogen. Ich hab … kaum Möbel.“
„Aber du hast bestimmt einen Wasserhahn. Und ein Bett, oder?“, grinst der Junge. Er spürt, dass er schon fast gewonnen hat. „Also bist du nicht von hier?“
„Ja … doch“, erwidert Arne. „Längere Geschichte.“
„Aha. Wenn du Bock hast, kannst du sie mir ja erzählen. Aber erst hinterher. Ich muss jetzt dringend erst mal ficken, okay?“
„Ich hab so was noch nie gemacht.“ Arne fühlt seinen letzten Widerstand dahinschmelzen.
„Was? Ficken?“
„Nein. Jemanden einfach so aufgegabelt. Auf der Straße.“
„Hast du auch jetzt nicht, Mann. Du hast dich von mir aufgabeln lassen.“
Von dieser Seite hat Arne es noch gar nicht betrachtet. „Und wie heißt du?“
Ein Schulterzucken antwortet ihm. „Kannst du dir aussuchen.“
„Will ich aber nicht. Ich will deinen richtigen Namen wissen.“
„Hab ich die Tage schon mal gehört“, brummt der Junge. „Ist das der neue Ich-fick-erst-mit-dir-wenn-du-mir-deinen-richtigen-Namen-verrätst-Hype?“ Arne kommt nicht ganz mit, und seinem Gesicht scheint man das anzusehen, denn sein Gegenüber seufzt und sagt: „Philip. Mein Name ist Philip. Und wie heißt du?“
„A… Alexander“, stottert Arne. Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme, auch wenn er selbst nicht so genau weiß, gegen was er sich vorsehen will.
Philip hebt eine Augenbraue. „Alexander. Okay. Und wo ist deine Wohnung, Alexander?“
„Wir nehmen ein Taxi.“ Plötzlich fühlt sich Arne verwegen, abenteuerlustig. Seine Fingerspitzen kribbeln, als könnten sie es nicht abwarten, etwas Neues auszuprobieren. „Philip“, sagt er und lächelt in den Nebel der Nacht.
April 1988
In Genf unterzeichnen Vertreter Afghanistans, Pakistans und der Garantiemächte USA und UdSSR den unter UNO-Vermittlung ausgehandelten Afghanistanvertrag. Dieser regelt den endgültigen Abzug der sowjetischen Truppen aus dem von einem Bürgerkrieg
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