Wie Jakob die Zeit verlor
lieber die Beine in den Bauch gestanden und sich einen steifen Nacken geholt, während er wie hypnotisiert nach oben geschaut hat.
Arne schüttelt verärgert den Kopf, während er durch die schlafende Stadt läuft, vorbei an verdunkelten Kneipen, Häusern und Supermärkten. Er ist über fünfzig und hat die gefühlsmäßigen Verwirrungen eines Pubertierenden. Hört das denn nie auf? Er sehnt sich zurück nach einem normalen Leben mit Jakob, einem Leben, das nur in seiner Vorstellung, aber nie in Wirklichkeit existierte. Immer saß noch ein anderer mit am Tisch, lag mit ihnen im Bett. Arne hat ihn nur lange Zeit nicht sehen wollen. Und als er Marius’ Anwesenheit nicht mehr ignorieren konnte, hätte er zu gerne die Augen geschlossen. Aber es ist so eine Sache mit Geistern: Wenn man ihrer erst einmal gewahr wurde, wird man sie nur schwerlich wieder los. Weil sie eigentlich gar nicht da sind.
Ohne es zu merken, ist Arne in der Altstadt gelandet, dort, wo auch um diese Zeit noch Leben herrscht. Nebelfetzen treiben an ihm vorbei. Neben dem Taxistand versorgt ein Dönerladen hungrige Nachtschwärmer mit den letzten Hammel- oder Hähnchenfleischtaschen; eine Fischbude hat ebenfalls noch geöffnet, Brötchen mit Hering und Backfisch liegen hinter der gläsernen Theke, drapiert auf welken Salatblättern. Zusammen mit einem Schwall Reggaemusik stolpert eine Gruppe junger Frauen mit unsicheren Schritten und viel Gegacker aus einem Club an die frische Luft. Die beiden Türsteher sehen ihnen halb sehnsüchtig, halb gelangweilt hinterher. Arne setzt sich auf eine Bank auf dem leergefegten Heumarkt. Von seiner Warte aus hat man einen guten Blick auf das Reiterdenkmal von König Friedrich Wilhelm III., eine Erinnerung an die preußische Vergangenheit der Stadt im 19. Jahrhundert. Die Stadt erinnert sich gern an vergangene Größe, schwelgt in der Pflege von Traditionen und ist doch oftmals nicht in der Lage, die Gegenwart zu meistern.
Er ist so in seine Gedanken versunken, dass er die torkelnde Gestalt anfangs gar nicht wahrnimmt, die plötzlich aus dem Nebel auftaucht, unsicher auf ihn zusteuert und sich dann neben ihn auf die Bank fallen lässt. Ein junger Kerl mit blonden Haaren, vom Alter her könnte er wahrscheinlich sein Sohn sein, und er ist offensichtlich ziemlich betrunken. Arne macht Anstalten aufzustehen; er hat kein Interesse daran, in Schwierigkeiten verwickelt zu werden.
Dabei ist er schon mittendrin, denn der Junge spricht ihn an. „He, Mann, warte mal.“ Sein Atem riecht nach Gummibärchen, und seine Hand greift nach Arnes Ärmel und zieht ihn zurück auf die Bank.
Arne streift die Hand ab. „Was soll das?“, fragt er ungehalten.
Der junge Kerl schüttelt den Kopf und bedeutet ihm mit einer Bewegung zu warten, dann beugt er sich plötzlich nach vorne und übergibt sich auf das Straßenpflaster. Arne springt angeekelt zur Seite.
„Sorry“, keucht der Junge und fährt sich mit dem Handrücken über den Mund. „Hat nichts mit dir zu tun. Zu viel Alkohol."
„Aha.“
„Wodka-Red-Bull, um genau zu sein“, informiert ihn der Junge mit schwerem Zungenschlag. „Mein Lieblingsgetränk.“ Er mustert Arne mit unverhohlener Neugier. „Du bist irgendwie niedlich. Wie ein zu groß geratener Teddybär. Und dann noch rote Haare. Putzig.“
Ob das eine Anmache ist? Arne kann noch nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob sein Gegenüber schwul ist. Bei den männlichen Jugendlichen von heute verlässt ihn sein sonst so untrüglicher Instinkt. Sie sehen alle aus, als kämen sie gerade vom Casting für eine Boy-Band. Vielleicht ist der Typ auch stockhetero und nur besoffen und Arne kriegt gleich ein paar auf die Fresse, wenn er etwas Falsches sagt. Schlägereien scheinen kein Fremdwort für den Typen zu sein; unter seinem linken Auge kann Arne die Reste eines Blutergusses ausmachen. „Ich geh dann mal“, sagt er vorsichtig. Sex steht heute sowieso nicht auf seiner Wunschliste. „Schönen Abend noch.“
Aber kaum ist er ein paar Meter gegangen, hört er Schritte hinter sich. Der Junge hat sich mühsam aufgerappelt und wankt hinter ihm her. Er hat Koordinationsschwierigkeiten und stolpert über seine eigenen Füße, die in ungeschnürten Turnschuhen stecken. Arne kann ihn gerade noch vor dem Fallen bewahren.
„Scheiße, Mann“, flucht der Junge und zieht sich an Arnes Schulter hoch. Dann grinst er ihn an. „Du hast rote Haare, Alter!“
„So weit waren wir schon“, seufzt Arne. Er sieht sich verstohlen nach
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