Wie keiner sonst / ebook (German Edition)
eine Wohnung verkaufen wollen, sagt er. Alle mögen Kaffeeduft.
Im Haus wohnen nur alte Menschen. Wir überholen sie auf der Treppe, abends hören wir ihre Fernsehapparate dröhnen. Bestimmt wird bald eine andere Wohnung frei, dann ziehen wir wieder um. Ich hoffe, dass wir hierbleiben. Wenigstens für eine Weile. Wir könnten von Wohnung zu Wohnung ziehen, könnten umziehen, sooft mein Vater will, ohne je das Haus zu verlassen.
Jedes Mal, wenn wir von Sara heimgehen, ist der Himmel ein bisschen dunkler. An einem Tag bleiben wir zum Essen, und fortan gehen wir nicht mehr zum Kaffee, sondern zum Abendessen zu ihr. Mein Vater steht seit Stunden in der Küche und bereitet eine Mahlzeit zu, die immer wieder in den Ofen muss. Wir bekommen Rinderbraten wie bei Großmutter, wir bekommen Frikadellen, Borschtsch und Geflügel ohne Knochen. Wenn der Rotwein ausgetrunken ist, trinken sie Kaffee. Ich sitze, ans Bücherregal gelehnt, auf dem Boden und zeichne sie. Ich zeichne den Tisch, an dem sie sitzen, und die Kaffeekanne, eine Blaue Madame, wie mein Vater sie nennt. Ich zeichne den Aschenbecher und den Rauch der Zigarette, die Sara nicht richtig ausgedrückt hat. Sie lacht über etwas, das mein Vater sagt. Mein Vater bringt sie immer zum Lachen. Sonst lacht sie selten, soviel ich weiß. Außer auf der Bühne, aber dort muss sie ja lachen, es steht auf den Blättern, die mein Vater bei der Arbeit vor sich liegen hat. Oder in der Kneipe mit den anderen Schauspielern, aber dort glaube ich ihr nicht. Ich habe gesehen, wie die Leute im Winter auf Glatteis ausrutschen, mit aufgeschürften Handflächen aufstehen und lachen, nein, es sei nichts passiert.
Ich zeichne meinen Vater als Zebra, das an einer kleinen Porzellantasse nippt. Sara zeichne ich als Löwin, ich will ihr gerade eine Mähne verpassen, als mir einfällt, dass weibliche Löwen gar keine haben.
»Komm, wir trinken einen Kurzen zum Kaffee.« Sara geht zum Bücherregal.
»Den hab ich nach der letzten Vorstellung geschenkt bekommen.« Sie zieht eine Flasche hervor. Dann schaut sie auf meinen Zeichenblock. Zuerst will ich ihn verstecken, nur mein Vater darf meine Bilder sehen, und vielleicht wird sie sauer, weil ich sie als Tier gezeichnet habe. »Darf ich mal sehen?«, fragt sie. Ich zögere, dann gebe ich ihr den Block.
»Die sind wirklich gut. Du solltest versuchen, uns auf der Bühne zu zeichnen.«
I ch halte einen Kohlestift in der Hand. Weder zu weich noch zu hart. Das rote Licht des Notausgangs beleuchtet meinen Block. Wenn nötig, kann ich den Stift in der Mitte des ersten Akts spitzen, wenn Olga eine schlechte Nachricht erfährt und den Samowar fallen lässt.
Ich zeichne die zwei Masken, die über der Bühne hängen, dann die Tische und Stühle, die Wasserkaraffe und die Vitrine. Meine Hände schwitzen, als würde mir jemand über die Schulter schauen. Ich weiß, dass ich Drachen, Trolle und ausgedachte Fantasietiere zeichnen kann, auch Gebäude oder Bäume mit vielen Blättern kann ich gut. Sogar Cowboys habe ich schon gezeichnet, aber da waren die Pistolen wichtiger. Richtige Menschen dagegen sind schwierig. Und die Schauspieler auf der Bühne bewegen sich. Sie laufen herum und reden, fuchteln mit den Armen, kommen und gehen. Ich schließe die Augen. Wie eine Kamera, die ein Foto macht. Dann zeichne ich sie, wie sie in diesem Augenblick standen. Mit erhobenen Händen und geöffneten Mündern. Ich zeichne, so gut ich mich erinnern kann, und lege den Stift weg.
Am nächsten Tag stehen die Schauspieler für einen Moment in derselben Position, und ich mache weiter. Hochgezogene Augenbrauen, erhobene Hände.
Sechs Tage am Stück zeichne ich. Sonntags haben wir frei, dann essen wir bei Sara. Ich sehe meine Zeichnung nicht an, das wäre Betrug. Außerdem habe ich Angst, dass sie mir nicht gefallen könnte. Und am Montag sitze ich wieder mit meinem Block im Schein der roten Lampe. Noch ein paar letzte Striche, und die Zeichnung ist fertig. Erst in der Pause sehe ich sie mir an. Die Bühne ist etwas zu groß geraten. Auch die Falten des Vorhangs könnten genauer sein, aber sie sehen ja jeden Abend anders aus. Dann betrachte ich die Schauspieler. Sie sehen wie Menschen aus, aber es sind keine. Sie stehen viel zu still. Wie ausgestopfte Tiere. Ihre Augen sehen aus wie Glasperlen. Ich zerknülle die Zeichnung und werfe sie in den Papierkorb, zu leeren Zigarettenschachteln und Plastiktassen.
Meinem Vater sage ich, es gehe mir nicht gut. Er hat die Jacke an, wir
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