Wie keiner sonst / ebook (German Edition)
verstehen.
Meine Tante zündet eine ihrer langen, dünnen Zigaretten an und schaut aus dem Fenster.
Nachdem die Fähre angelegt hat, verlieren wir den blauen Kombi schnell aus den Augen. Meine Tante muss das Dorf in wenigen Sekunden hinter sich gelassen haben. Als wir an der Kneipe vorbeifahren, geht die Tür auf, und ein großer Mann wankt heraus. Muskeln und Fett, zu gleichen Teilen in einem durchlöcherten dunkelblauen Pullover verpackt. Er bleibt mitten auf der Straße vor uns stehen. Meine Großmutter bremst und drückt auf die Hupe. Der Mann spannt die Rückenmuskeln an und dreht sich um. Er will auf das Auto zulaufen und schreien, doch dann sieht er, wer am Steuer sitzt, und tritt zur Seite. Mit einer Verbeugung und einer ausladenden Geste bedeutet er uns, dass wir weiterfahren können.
»Früher sind sie im Meer ersoffen«, sagt meine Großmutter. »Das war vor den Fischereiquoten und alldem …« Meine Cousine hält den Arm vor den Mund und kichert, aber meine Großmutter sieht sie scharf an. Wir kommen an einem Haus mit verfallenem Dach vorbei, im Vorgarten liegt ein alter Kühlschrank.
Die Türen zum Esszimmer sind geöffnet. Eine kleine Frau mit grauem Haar stellt Salz- und Pfefferstreuer auf den Tisch. Das Zimmer ist so einfach eingerichtet, dass es beinahe modern wirkt. An den weißen Wänden hängen ein paar Wandteller mit Fischmotiven, aber es gibt weder Platzdeckchen noch Porzellanfiguren oder andere Dekoration. Wir setzen uns an den Tisch, meine Großmutter faltet die Hände, ihre Lippen bewegen sich lautlos. Mein Cousin steckt die weiße Stoffserviette zwischen die Zinken seiner Gabel.
Ich versuche, die Aufmerksamkeit meiner Cousine zu erheischen, aber es gelingt mir nicht.
Die grauhaarige Frau stellt eine Schale gehackte Petersilie auf den Tisch und geht wieder hinaus.
»Bezahlst du sie noch immer nicht?«, fragt meine Tante. Meine Großmutter schüttelt den Kopf.
»Wenn es am Geld liegt, kann ich gerne …«
»Das hat nichts mit Geld zu tun.«
Meine Großmutter schaut mich an und lächelt.
»Sie braucht eine Aufgabe, sonst sitzt sie nur daheim.«
Wir essen Lamm mit weißer Senfsoße und kleinen, gelben Kartoffeln.
Meine Großmutter führt das Weinglas an die Lippen, aber ich kann nicht sehen, ob sie wirklich trinkt. Meine Tante ist bereits beim zweiten Glas Weißwein, sie schenkt mir nach, ohne vorher zu fragen. Mein Cousin starrt mein Glas an, weder ihm noch seiner Schwester wurde Wein angeboten. Sie trinken Orangenlimo.
Während wir essen, höre ich ein einsames Auto auf dem Feldweg vor dem Haus. Am Fenster fliegt eine Möwe vorbei.
Meine Tante sagt: »Ich hatte fast vergessen, wie Lamm schmecken muss«, und schenkt mehr Wein ein.
Die Hände meiner Cousine sind dünn, die Haut aufgerissen. Ich beobachte sie beim Kartoffeln essen.
Mein Cousin beugt sich über den Tisch und flüstert ihr zu: »Wie schade um das schöne Essen. Bei dir ist es ja die reinste Verschwendung.«
Das Mädchen lässt sein Besteck fallen, sodass es laut auf den Teller knallt. Es steht auf und läuft aus dem Esszimmer und die Treppe hinauf.
»Könntest du nicht einmal nett zu ihr sein?«, fragt meine Tante.
Nach dem Mittagessen sage ich meiner Großmutter, dass ich frische Luft brauche.
»Wenn du jemanden triffst, sag, dass du mein Enkel bist.«
Ich ziehe meine neuen Sachen an, die Winterjacke und die Stiefel.
Nach wenigen Metern höre ich hinter mir Schritte. Mein Cousin holt mich ein. »Die anderen haben mich geschickt. Ich soll mitgehen, weil ich die Insel kenne.«
Ich antworte nicht und gehe weiter. Wir erreichen die ersten niedrigen Bäume. Ich schirme den Wind mit der Jacke ab und zünde mir einen Joint an.
»Darf ich mitrauchen?«, fragt mein Cousin. Ich gehe weiter durch die flache, öde Landschaft, will ihn loswerden, aber Rennen hilft hier nicht.
Wieder holt er mich ein.
»Was ist mit den Händen deiner Schwester los?«, frage ich.
»Sie steckt sich nach jedem Essen den Finger in den Hals. Die Magensäure zerfrisst ihre Haut.«
Ich reiche ihm den Joint. Er nimmt einen tiefen Zug und zwingt sich, den Rauch in den Lungen zu halten.
»Wenn du willst, kannst du sie ficken.« Der Rauch kommt zusammen mit den Worten aus seinem Mund. »Das ist nicht schwer. Du musst nur ›Sesam, öffne dich‹ sagen.« Er nimmt noch einen tiefen Zug, die Glut flammt auf und frisst sich durch den locker gedrehten Tabak. Ich nehme ihm den Joint ab und gehe weiter.
Wenige Minuten später fällt mir auf,
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