Wie keiner sonst / ebook (German Edition)
Während der Überfahrt stehe ich auf Deck. Es ist kalt, meine Augen tränen. Salzige Gischt spritzt mir ins Gesicht, und ich lache, aber der Schiffsmotor übertönt alles. Als ich den Zug wieder besteige, kann ich weder Finger noch Zehen spüren.
Die Passagiere kommen und gehen, während ich durchs ganze Land fahre.
Noch etliche Kilometer liegen vor mir. Aber das macht nichts, ich halte die Augen halb geschlossen und bin immer noch in Camillas Zimmer. Sie hat ein Muttermal auf der Schulter, und ihr Haar riecht nach Rauch und Äpfeln. Ich spüre ihre Finger auf meinen Armen, ihre kalten Füße an meinem Rücken. Ich sehe die Kerzen auf der Fensterbank, das Wachs tropft auf den Teppichboden.
Mitten in der Nacht gehen wir in die Küche und machen uns mehr Toasts. Das Haus ist kalt, wir sind nackt, und der Schweiß trocknet auf unseren Rücken. Sie sitzt auf dem Marmortisch und sagt, sie habe Angst festzufrieren. Ich küsse sie auf den Mund.
Der Servierwagen des Zugkellners rammt mein Knie. Er entschuldigt sich, und ich kaufe ein Sandwich mit einer halben Frikadelle und Rotkohl, obwohl ich keinen Hunger habe.
Vor dem Fenster gleiten Städte vorbei. Manche klein, andere größer.
Als wir die Endstation erreichen, habe ich den ganzen Tag im Zug verbracht. Nur eine Handvoll Menschen steigt aus. Ich gehe durch einen leeren Bahnhof, in dem alles geschlossen ist, und durch eine Unterführung zur Bushaltestelle. Dort stelle ich mich unter einen Windschutz und schlage die Jacke fest um mich. Eine halbe Stunde später kommt der Bus.
Das Licht im Bus ist so schwach, dass ich kaum meine Hände sehe. Die wenigen Passagiere sitzen weit voneinander entfernt. Beim Einsteigen nicken sie dem Busfahrer und dem ein oder anderen Mitreisenden zu, aber niemand redet. Wir fahren an Feldern vorbei und durch Dörfer, die ich kenne. Oder die so aussehen. Als ich klein war, habe ich hier gewohnt.
Auf der linken Seite taucht ab und zu das Wasser auf, wie ein schwarzer Strich. Dann wieder große, eckige Gebäude, Schweineställe und Getreidesilos. Der Fahrer macht eine Zigarettenpause im Freien. Er schaut auf die Uhr, und wir fahren weiter.
An der Endstation frage ich den Fahrer, wo der Hafen liegt. Er zeigt nach vorn und sagt, es sei nicht weit.
D ie Insel ist dunkel. Vom Fährendeck aus kann ich nur schwer erkennen, wie groß sie ist. Auf der Karte sieht sie aus wie ein Vogelfelsen, der einen Namen bekommen hat.
Nur ein Auto ist an Bord. Der Motor knattert, der Fahrer gibt Gas und fährt an Land.
Ich gehe über die gepflasterte Straße. Vorbei an einem geschlossenen Imbiss, einer kleinen Bretterbude, an der verblichene Bilder von Hotdogs, Hamburgern und Pommes hängen.
Eine ältere Frau in einem grünen Wollmantel steht neben einem alten Opel.
Als ich sie erreiche, umarmt sie mich kurz und bedeutet mit einer Geste, dass ich einsteigen soll.
»Ich freue mich, dass du gekommen bist«, sagt sie und startet den Motor. Wir fahren durch eine schmale Straße mit niedrigen Häusern. Die meisten Fenster sind dunkel, durch manche dringt das flackernde Licht von Fernsehapparaten.
Wir fahren an einer Kneipe vorbei, meine Großmutter schaut kurz in die Richtung.
»Da darfst du nicht hingehen«, sagt sie. »Auch wenn du große Lust dazu hast.«
Dann verlassen wir das Dorf. Die Straße ist von dichtem Buschwerk und niedrigen Bäumen gesäumt.
Als wir an der Kirche vorbeikommen, bremst sie ab.
»Sie werden nie einen anderen Pastor finden«, sagt sie. »Die Kirche verfällt.«
Der Pfarrhof ist das größte Gebäude, das ich bis jetzt auf der Insel gesehen habe. Meine Großmutter parkt auf dem Hofplatz, steigt aus und schließt die Tür auf. Sie macht das Licht auf dem Korridor an, und wir gehen an vielen verschlossenen Türen vorbei.
»Es ist zu teuer, das ganze Haus zu heizen«, sagt sie. »Zieh den Kopf ein.« Wir gehen drei Stufen zur Küche hinab. Sie ist groß und zweckmäßig eingerichtet. Eine Köchin könnte hier ohne Weiteres eine Großfamilie versorgen.
Der Tisch ist mit einem rot-weiß karierten Wachstuch gedeckt. Meine Großmutter schaufelt gelbe Erbsen auf meinen Teller.
»Leider kein Festessen«, sagt sie und legt zwei Scheiben Schweinefleisch auf den Tellerrand. »Aber du bist weit gereist, du brauchst etwas Ordentliches.«
Sie schaut mir beim Essen zu. Das Haus ist kalt und still.
»Ich habe dich zwei Mal gesehen. Das erste Mal gleich nach deiner Geburt«, sagt sie. »Und das zweite Mal auf einem Bahnsteig. Dein Vater
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