Wie keiner sonst / ebook (German Edition)
dass ich keine Schritte mehr hinter mir höre. Ich drehe mich nicht um, will in Ruhe fertig rauchen. Inzwischen bin ich so dicht am Meer, dass ich das Salz auf der Zunge schmecke. Erst jetzt schaue ich nach hinten.
Mein Cousin sitzt am Wegrand und starrt in den Himmel.
Ich helfe ihm auf die Beine, er taumelt, und ich muss ihn stützen. Er stöhnt, schwafelt und kann kaum geradeaus schauen.
Ich setze ihn auf die Bank vor dem Pfarrhof.
Seine Schwester sitzt in der Küche und zeichnet ein feinmaschiges Muster auf ein Blatt Papier. Das halbe Blatt ist schon voller ineinander verschlungener Linien. Hinter ihr erledigt die grauhaarige Frau den Abwasch.
Ich bitte meine Cousine, mir mit ihrem Bruder zu helfen. Sie schaut von ihrem Blatt auf, ihre Augen sind rot. Schließlich steht sie auf und kommt mit.
Als sie ihren Bruder sieht, kichert sie wie im Auto, mit vorgehaltenem Ärmel.
Sie geht voran und hält Ausschau, während ich Frederik ins Haus und die Treppe hinaufschleppe. Sie öffnet die Tür zu seinem Zimmer, einer kleinen, fensterlosen Kammer.
Ich werfe Frederik aufs Bett und ziehe ihm die Schuhe aus. Wenn jemand nach ihm schaut, sieht es aus, als würde er Mittagsschlaf halten.
W ir setzen mit der ersten Fähre über. Heute bin ich mit meiner Großmutter allein. Wir folgen den blauen Pfeilen. Meine Großmutter spricht mit der Krankenpflegerin und erfährt, dass seit gestern alles unverändert ist.
»Aber der Oberarzt möchte mit Ihrem Enkel sprechen …« Meine Großmutter ist schon auf dem Weg ins Zimmer.
Der Mann im Bett ist weiter geschrumpft, seine Haut spannt sich immer strammer über den Schädel.
»Er hat nie viele Worte gemacht«, sagt meine Großmutter. »Er hat seine Stimme geschont, weil er jeden Sonntag mit dem Wind um die Wette schreien musste. Und er konnte schreien, glaub mir, er konnte schreien.«
Nach Stunden des Wartens gehen wir in die Cafeteria und trinken Kaffee aus einer Kanne, die zu lange auf der Wärmeplatte gestanden hat. Meine Großmutter isst ein halbes Stück Rührkuchen, ich bekomme ein Sandwich mit Eiersalat. Dann setzen wir uns wieder neben den Mann im Bett. Ich höre den Maschinen zu, die für ihn atmen, und blättere in einer vier Tage alten Zeitung.
Ich gehe zu dem Servierwagen auf dem Flur, lege ein paar Kronen in die Münzschale und hole zwei Tassen Kaffee. Als ich die Tür mit der Schulter aufstoßen will, kommt ein junger Arzt auf mich zu. Er fasst mich am Ellbogen und lächelt.
»Du bist der Enkel?«
Ich höre, dass er aus Kopenhagen stammt. Er ist Anfang dreißig, wahrscheinlich haben sie ihn aufs Land geschickt.
»Vielleicht kannst du mit ihr reden. Es gibt eigentlich keine Chance, dass er aufwacht.«
»Heute nicht?«
»Heute nicht. Und auch nicht in fünf Tagen. Tut mir leid, dass ich es so direkt sage.« Sein T-Shirt unter dem Kittel ist verwaschen. Ich spüre den heißen Kaffee von innen brennen.
»Ich habe Mitleid mit ihr«, sagt der Arzt. »Und mit ihm, weil er in diesem Zustand bleiben muss.«
Er sieht mich an und hofft, dass ich etwas sagen oder wenigstens nicken werde. Dass ich ihm ein Zeichen gebe.
»Natürlich sollst du das nicht entscheiden, aber vielleicht könntest du mit ihr reden?«
Als ich das Zimmer wieder betrete, steht meine Großmutter am Fußende und stützt sich auf den Bettrahmen.
»Die Ärzte irren sich«, sagt sie, als hätte sie uns gehört. »Er wird aufwachen.« Ich stelle die Tassen neben die Pappschachtel mit Latex-Handschuhen auf den Betttisch.
»Ich wünschte, dein Vater wäre hier.« Sie wischt sich Tränen aus den Augen.
»Was ist mit ihm geschehen?«
»Nichts.« Sie starrt den Mann im Bett fest an. »Es ist das Alter, sonst nichts.«
Die Krankenpflegerin erinnert uns freundlich daran, dass die Besuchszeit zu Ende sei. Beim zweiten Mal mahnt sie resolut zum Aufbruch. Meine Großmutter nimmt ihren Mantel vom Stuhl, und wir folgen den Pfeilen.
Der Parkplatz ist leer, wir steigen in den alten Opel.
»Was ist mit meinem Vater geschehen?«, frage ich, als wir auf die Schnellstraße fahren.
Sie richtet sich im Sitz auf, die Falten um ihren Mund werden tiefer.
»Es heißt, er sei schwer erkrankt«, antwortet sie schließlich.
»Ja … aber weißt du, was geschehen ist?«
»Nein.« Sie richtet den Blick starr auf die Straße.
Nach der Überfahrt halten wir am einzigen Geschäft der Insel an. Ein kleiner Laden, in dem Seile, Motorenöl, Alkohol, ein paar Lebensmittel und verblichene Taschenbücher verkauft
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