Wie Kinder heute lernen
Basalganglien, Kleinhirn und Großhirnrinde bestehen. Hier ist man auf erstaunliche Effekte gestoßen, die man als Eltern kennen sollte, wenn es im abendlichen Kampf um das Zu-Bett-Gehen heißt, hart, aber
herzlich zu bleiben. Der amerikanische Forscher Robert Stickgold von der Harvard-Universität ließ seine Versuchspersonen lernen, ein bestimmtes, schwer zu identifizierendes Muster möglichst schnell zu erkennen. Die Probanden mussten den ganzen Tag üben. Wenig außergewöhnlich war dabei, dass sich mit zunehmendem Training die Reaktionszeit verkürzte. Erstaunlich hingegen war, dass die Leistung der Probanden nach einer durchschlafenen Nacht am Morgen darauf sprunghaft angestiegen war - ihre Gehirne hatten in der Nacht weitergeübt! Der Effekt lässt sich auch Tage nach dem Versuch noch nachweisen. Verwehrte man den Versuchspersonen allerdings den ersten nächtlichen Schlaf, nachdem sie neues Wissen erworben hatten, so blieb der Lerneffekt aus. Und zwar unwiderruflich - selbst wenn die Probanden in der Nacht danach ausreichend schliefen, stellte sich keine bessere Leistung ein. Fazit: Entscheidend für den Lernerfolg ist der Schlaf unmittelbar nachdem man etwas Neues gelernt hat!
Das Gehirn scheint also das tagsüber Gelernte nachts weiter zu trainieren. Dies gilt gleichermaßen für das explizite wie für das implizite Gedächtnis (siehe auch Abb. 4 , Seite 60). Hierbei werden die Verbindungen in einem Netzwerk von Nervenzellen für eine bestimmte Aufgabe optimiert. Das geschieht im Wesentlichen durch Wiederholung. Offenbar gibt es auch für Kindergehirne keine Alternative zu dem Prinzip »Übung macht den Meister« - am liebsten während wir schlafen.
Warum Assoziationen so wichtig sind
Wie aber bringt unser Gehirn sowohl im Wach- wie im Schlafzustand diese Lern- und Gedächtnisleistungen zustande? Und warum lernen Kinder am besten durch Wiederholen?
Frühere Vorstellungen über die zellulären Grundlagen von Lern- und Gedächtnisvorgängen gingen davon aus, dass Erinnerungen als Proteine im Gehirn abgelegt werden, d. h., dass jede
Erinnerung in einem einzelnen Eiweißmolekül gespeichert wird. In der Tat käme dieses Modell der Pharmaindustrie zugute (kurz vor der Lateinklausur noch eben eine Vokabelpille einwerfen …). Leider muss diese Theorie aber nach dem heutigen Stand des Wissens verworfen werden, denn wenn man sie weiterdenkt, müsste es mehr Eiweißmoleküle geben, als unser Erbgut Gene hat. Heute geht man davon aus, dass die Prozesse des Lernens und das Funktionieren des Gedächtnisses nicht Eigenschaften einzelner Moleküle sind, sondern eine Netzwerkeigenschaft vieler Nervenzellen. Gemäß dem Prinzip der Aufgabenteilung durch sogenannte multimodale Repräsentationen nimmt man an, dass das Gedächtnis über die Großhirnrinde verteilt ist. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass es nicht nur eine Gruppe von Nervenzellen gibt, die etwas gespeichert hat, sondern dass überlappende Aspekte einer Erinnerung in verschiedenen Netzwerken abgelegt sind. Dabei lassen sich Erinnerungen nicht wie ein Film abspielen, sondern jede Erinnerung wird beim Vorgang des Erinnerns neu zusammengestellt und rekonstruiert. Entsprechend wichtig ist es, auch beim Abrufen von Erinnerungen die richtige Lernatmosphäre für Kinder zu schaffen. Erinnerungen sind kein passiver Prozess, sie erfordern ein hohes Maß an aktiver Assoziationskraft. Unser Kopf funktioniert ähnlich wie ein Symphoniekonzert: Wenn man beginnt, sich schwach zu erinnern, ist das wie ein erster leiser Geigenton. Dann nimmt ein anderer Streicher das Thema auf, und langsam fallen alle Violinen ein. Erst jetzt setzt die wundersame Symphonie des Erinnerns ein. Der Dirigent in diesem Gedächtniskonzert könnte der Hippokampus sein: Ohne ihn wird kein neues Stück eingeübt, das in Zusammenhang mit deklarativen Gedächtnisinhalten steht.
In Wirklichkeit ist eine Nervenzelle natürlich keine Violine, das Gedächtnis kein Orchester und das Gehirn kein Konzertsaal. Kernelemente für alle Gehirnprozesse sind die Nervenzellen als nimmersatte Input-Output-Generatoren. Nervenzellen können sich in ihren Eingangs- und Ausgangscharakteristika und in ihrer Struktur aufgrund von elektrischer und chemischer Aktivität an Veränderungen in ihrer lokalen Umgebung anpassen - sie können, ja sie müssen plastisch sein. Beim Erinnern wird also ein ähnliches raumzeitliches Aktivitätsmuster der Nervenzellen erzeugt, wie wir es bereits beim Abspeichern von Informationen
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