Wie Kinder heute lernen
dieser Technik verwendete er auch eine andere alte Merkhilfe (Mnemotechnik), um seine Gedächtnisleistung zu steigern: Während man ihm eine zu memorierende Liste vorlas, legte er jedes Wort oder jede Zahl entlang eines ihm bekannten Weges ab (Loci-Technik); musste er die Wörter dann später wieder abrufen, schritt er in Gedanken den Weg ab und betrachtete die imaginierten Gegenstände am Rande des Weges. Wenn ihm beim Erinnern doch ein Fehler unterlief - was selten vorkam -, so hatte er z. B. versehentlich einen weißen Gegenstand vor eine weiße Wand gelegt. In den 30 Jahren, in denen der Neurologe Luria S. untersuchte, stieß dieser nicht einmal an die Grenzen seines Gedächtnisses. Um einmal Abgespeichertes wieder zu vergessen, musste S. den gleichen Aufwand betreiben, den wir »Normal-Mnemoniker« an den Tag legen müssen, um
uns an etwas zu erinnern. So versuchte er etwa mit einem virtuellen Schwamm, zum Teil sogar mit Erfolg, Tafelanschriften vor seinem inneren Auge wegzuwischen. Leider kann nicht mehr geklärt werden, in welchem organischen Substrat das absolute Gedächtnis von S. begründet lag.
Trotz dieses traumhaft guten Gedächtnisses hatte S. Probleme, Grundgedanken zu abstrakten Begriffen zusammenzufassen oder komplexe Zusammenhänge zu erkennen. Es fiel ihm schwer, die Bedeutung eines Geschehens zu erfassen. Auch einer vorgelesenen Geschichte zu folgen bereitete ihm Probleme, da er dabei einer Explosion von sensorischen Erlebnissen ausgesetzt war.
Was wir aus diesen und anderen instruktiven individuellen Beispielen lernen können, ist: Um sich effektiv in unserer Welt zurechtzufinden, bedarf es nicht nur eines guten Gedächtnisses, sondern auch des Vergessens und Aussortierens von Abgespeichertem. Aus Informationen sinnvolles Wissen zu machen bedeutet, eine Auswahl zu treffen und nicht beliebig viele Informationen zu speichern. Eine Bildszene etwa muss man in vertretbarer Zeit analysieren können, und dies gelingt nur, indem man sich auf einige wenige Dinge konzentriert und andere Details weglässt oder übersieht. Ohne eine selektive Sinnesverarbeitung, ohne eine selektive Aufmerksamkeit, aber auch ohne ein selektives Gedächtnis, das wir oft als schlecht bezeichnen, ist niemand imstande, aus der Flut von Informationen, mit der wir ständig konfrontiert sind, einen Sinn zu erschließen. Die Effektivität unseres Handelns und Denkens wird nicht nur durch Erinnern und selektives Wahrnehmen bestimmt, sondern ebenso sehr durch Vergessen und Weglassen. Anders gesagt: Vergessen ist keine Fehlentwicklung unseres Gedächtnisses, sondern ein integraler Bestandteil.
Was Kinder im Schlaf lernen
Wenn Kinder lernen, sind große Teile des Gehirns aktiv - und verbrauchen entsprechend viel Sauerstoff und Glukose (Traubenzucker). Dies ist einer der Gründe, warum es so wichtig ist, bei Kindern auf eine ausgewogene Ernährung und genügend Bewegung zu achten (siehe Kapitel 3.1 »Ernährung und Bewegung«).
Konnte ein Lernvorgang erfolgreich abgeschlossen werden, wird, wenn die Übung später wiederholt wird, ein wesentlich geringerer Teil des Gehirns aktiv. Das gilt für Seilspringen ebenso wie für Vokabellernen. Entsprechend gehört es maßgeblich zur Entwicklung des kindlichen Gehirns, die Informationsverarbeitung zwischen Nervenzellen und ganzen Gehirnarealen effizienter zu machen. Je mehr Anregungen ein Kind bekommt, Neues zu lernen, umso erfolgreicher wird es die Sinnesreize verarbeiten und die neuen Erfahrungen in bestehendes Wissen einbauen.
Dabei kann die Bedeutung des nächtlichen Schlafes gar nicht hoch genug geschätzt werden. Wobei es nicht darum geht, Programme zu propagieren, bei denen Kinder im Schlaf über Kopfhörer Lateingrammatik lernen. Das ist in etwa so wirkungsvoll wie das berühmte Buch, das man sich unters Kopfkissen legt. Kinder können im Schlaf nichts lernen, was ihnen nicht schon am Tag begegnet wäre. Und trotzdem ist Schlaf für erfolgreiches Lernen unabdingbar: Wenn Kinder nach einem anstrengenden Lerntag nicht genug schlafen, verpufft ein Teil der Anstrengungen.
Mittlerweile sind Hirnforscher und Psychologen in der Lage, den Einfluss des Schlafs auf das Lernen sehr detailliert zu untersuchen. So wissen wir, dass Erlebnisse und gelernte Fakten im Laufe des Schlafes in einer Aktivitätsschleife aus Hippokampus und Großhirnrinde mehrfach durchlaufen werden. Motorische Programme werden zwar auch des Nachts eingeübt, allerdings in anderen neuronalen Schaltkreisen, die aus
Weitere Kostenlose Bücher