Wie Kinder heute lernen
Gehirn durch genetisch vorgegebene Wachstumsprogramme sein Gewicht von 250 auf 750 Gramm. Es ist also kein Wunder, dass die Intelligenz von Kindern in diesem ersten Lebensjahr sprunghaft steigt. Gehirngröße und kognitive Fertigkeiten korrelieren hier stark. Das bedeutet aber nicht, dass das größere Gehirn eines erwachsenen Menschen generell leistungsfähiger ist. Die Korrelation zwischen Gehirngröße und IQ beträgt im Erwachsenenalter nur 0,35 und ist damit eher gering: Bei absoluter Übereinstimmung wäre der Wert eins, gäbe es überhaupt keinen Zusammenhang, läge der Wert bei null. Es scheint also eine leichte Tendenz zu geben, dass größere Gehirne bessere Chancen haben, auch leistungsfähiger zu sein. Ob sie diesen kleinen Vorteil aber tatsächlich einlösen, hängt von der Übermacht anderer Faktoren ab. Unzweifelhaft ist jedenfalls, dass die Zunahme des Gehirnvolumens der geistigen Heranreifung des Kindes vorangeht. Aber das allein ist nicht ausschlaggebend. Denn bereits im Alter von fünf Jahren hat das kindliche Gehirn das Volumen und Gewicht eines erwachsenen Gehirns erreicht. Es besitzt aber noch lange nicht dessen Leistungsfähigkeit. Kindergehirne arbeiten langsamer und weniger effizient als die Gehirne von Erwachsenen. Selbst mit fünf Jahren verfügen Kinder noch über zu viele Leitungsbahnen, mit denen sie gleiche Informationen verarbeiten. Das ist zwar nützlich, da noch viele Wege befahren werden können, aber eben wenig effizient.
Die Reifung des Gehirns geht entsprechend vor allem mit dem Zurückziehen nicht benötigter Axone und Dendriten sowie der Myelinisierung von Axonen einher (gemeint ist eine Ummantelung von Axonen mit fettreichen Membranen zur besseren Isolierung dieser elektrischen Fortleitungskabel). Letzteres steigert
vor allem die Verarbeitungsgeschwindigkeit. Obwohl bei einem Säugling die elektrischen und chemischen Signale eigentlich nur sehr kurze Wege zurücklegen müssen, dauert die Verarbeitung eines Reizes etwa dreimal so lange wie bei einem Erwachsenen. Berücksichtigt man die Zunahme der Körpergröße bis ins erwachsene Alter hinein, dann bedeutet eine dreifach schnellere Verarbeitung als Erwachsener eine 16-fache Steigerung der kindlichen Leitungsgeschwindigkeit. Erst mit dem zwölften Lebensjahr erreicht die Leitungsgeschwindigkeit der Nervenfasern das Niveau eines erwachsenen Gehirns.
Trotzdem benötigen zwölfjährige Kinder fast doppelt so viel Zeit, um eine kognitive Aufgabe zu lösen, wie Erwachsene. Erst mit 15 Jahren, wenn eine weitere Effizienzsteigerung stattgefunden hat und das Arbeitsgedächtnis leistungsfähiger geworden ist, erreichen sie deren Geschwindigkeit. Die größere Effizienz ab dem 15. Lebensjahr hängt mit der Verschaltung verschiedener Gehirnareale zusammen, während der größere Arbeitsspeicher es erlaubt, mit mehreren mentalen Objekten gleichzeitig zu operieren. Letzteres geht einher mit der sehr späten Reifung bestimmter Regionen im Stirnlappen. Die Aufbauphase dieser Bereiche dauert noch bis in die Pubertät hinein an. Es wird vermutet, dass die Umbaumaßnahmen in diesem Teil des Gehirns maßgeblich für Probleme wie mangelnde Emotionskontrolle und die Unfähigkeit, langfristige Ziele zu verfolgen, verantwortlich sind, die pubertierende Kinder - und die Eltern mit ihnen - haben (siehe Kapitel 4, »Hat mein Kind eine Lernstörung?«). Im Stirnlappen erreichen die Synapsen erst ab dem siebten Lebensjahr ihre höchste Dichte (zum Vergleich: die Sehrinde ist schon nach zwölf Monaten so weit). Anschließend werden die effizienten von den nutzlosen Verbindungen getrennt, und erst zwischen dem 12. und 14. Lebensjahr wird das Erwachsenenniveau erreicht. Auch das Einwachsen von Nervenfasern in den Stirnlappenbereich, die den Botenstoff Dopamin ausschütten, geht nur sehr zögerlich voran. Ihre Myelinisierung wird noch bis in das 20. Lebensjahr
hin andauern. Wie wir bereits gesehen haben, kommt dem Dopamin eine immense Bedeutung für Motivation und Konzentration zu sowie für den Umfang des Arbeitsspeichers und die Kreativität (siehe auch Kapitel 2.1, »Motivation und Konzentration«).
Sechs Jahre und ein bisschen weise
Weit vor der Pubertät kommt es zu einem entscheidenden Leistungssprung in der kognitiven Entwicklung. Er findet um das sechste Lebensjahr herum statt. In diesem Alter scheint die Vernunft in den Kindern langsam zu erwachen. Nicht umsonst werden Kinder in diesem Lebensjahr eingeschult, und definitionsgemäß endet hier die
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