Wie Kinder heute lernen
frühe Kindheit. Im sechsten Lebensjahr vereinigen sich bei den meisten Kindern einzelne kognitive und motorische Fertigkeiten zu einem harmonischen Ganzen, welches es dem Kind ermöglicht, zielgerichtet zu lernen. So sind in diesem Alter die Fertigkeiten von Malen, Gedächtnis und Sprachverständnis weit entwickelt. Auch bei den für die Schule entscheidenden Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit, emotionale Kontrolle und Selbstbewusstsein ist zu diesem Zeitpunkt ein großer Sprung zu verzeichnen. Nach einer Theorie von Jean Piaget entsteht jetzt das konkret-operationale Denken, d. h., ein Kind beginnt, Probleme mit Hilfe von logischen Operationen zu lösen. Erst ab dem sechsten Lebensjahr korreliert der IQ-Wert mit dem stabilen Wert eines Erwachsenen, während Vorschul-IQ-Tests möglicherweise vergnügliche, aber wenig aussagefähige Ergebnisse produzieren.
Dieser Entwicklungssprung um das sechste Lebensjahr herum ist als Produkt der Gehirnreifung übrigens kulturunabhängig - überall auf der Welt treten Kinder in diesem Alter in eine neue Lebensphase ein. Jetzt haben sich einige Teile der Großhirnrinde so weit entwickelt, dass sie effektiver miteinander verschaltet werden können. Auch der Stirnlappen ist nun so weit gereift, dass er erste rudimentäre Funktionen übernehmen kann. Ein wichtiges
Teilgebiet des Stirnlappens ist der präfrontale Kortex. Er kommt einer Vorstandsetage gleich, wo alle Informationen aus den Gefühlszentren und von den Sinnesorganen zusammenlaufen, bewertet und dann über eine Aktivierung der motorischen Areale die Handlungen koordiniert werden - sei es durch Sprache oder Bewegung. Hier werden komplexe Abläufe geplant, und hier ist auch der Sitz des Arbeitsgedächtnisses. Zielgerichtetes Handeln hat nicht nur etwas mit der richtigen Reihenfolge der geplanten Abläufe zu tun. Es erfordert vor allem, dass ablenkende Aktivitäten verhindert werden. Entsprechend liegt eine der wesentlichen Aufgaben des präfrontalen Kortex nicht nur in der Planung von Handlungen, sondern vor allem in der Hemmung spontaner Impulse oder konkurrierender Aktivitäten. Insbesondere das Unterdrücken von ablenkender Tätigkeit setzt bei Sechsjährigen dank der Reifung des Stirnlappens erstmals ein. Die Kinder werden in ihren Aktivitäten weniger sprunghaft und damit zielorientierter. Sie sind jetzt erstmals imstande, einigermaßen still auf einem Stuhl zu sitzen und Sachverhalten zu folgen.
Aber es wird noch eine weitere Gehirnregion bei Sechsjährigen zugeschaltet: der Gyrus cinguli, eine Region, die genau in der Mitte des Gehirns am Rande der inneren Fläche der Großhirnrinde liegt (siehe Abb. 6 , Seite 66). Diese zum limbischen System gehörende Struktur ist aktiv bei der Gefühlswahrnehmung, bei Konflikten zwischen konkurrierenden Zielen und bei der Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum hinweg. Bildgebende Verfahren haben gezeigt, dass der Gyrus cinguli anterior umso aktiver wird, je schwieriger die zu lösende Aufgabe ist. Ist eine Aufgabe eingeübt, sinkt seine Aktivität wieder.
Mit sechs Jahren sind also alle elementaren Gehirnareale, die für das Lernen im Schulkontext entscheidend sind, ausgebildet. Die Reifung des Gehirns ist damit natürlich noch lange nicht abgeschlossen. Sie hat aber einen wichtigen Bauabschnitt erreicht: Der Rohbau steht.
Kann man die Intelligenz von Kindern fördern?
Intelligenz ist bis zu 50 Prozent erblich - also haben Eltern die Hälfte der Arbeit bereits in der Zeugungsnacht getan. Auf der anderen Seite sind die 50 Prozent, mit der die Umwelt auf die Entfaltung der Intelligenz einwirkt, ebenfalls nicht unerheblich. Gefragt ist aber vor allem der Einfluss der Eltern darauf, wie Kinder ihre Intelligenz bestmöglich nutzen können. All diese Einflüsse beginnen sehr früh, nämlich im Säuglingsalter, wenn Kinder noch vollständig von ihren Eltern abhängig sind. Die Vorbereitung auf das Schulleben beginnt nicht erst mit dem Überreichen der Schultüte am ersten Schultag.
Aber welches sind die wichtigen und richtigen Bedingungen, damit der Intellekt eines Kindes ungestört heranwächst und bestmöglich gefördert wird? Oft ist ein subtiler Unterschied entscheidend oder der richtige Zeitpunkt, ob eine entsprechende Stimulation förderlich ist oder unbemerkt verstreicht.
Eine Frage, die sich in diesem Zusammenhang vielen Eltern - und auch Psychologen - stellt, ist die, ob und inwiefern es dem Kind in der kognitiven Entwicklung schadet, wenn man
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