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Wie Kinder heute lernen

Titel: Wie Kinder heute lernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Korte
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um Verzeihung bittet, nicht besser zugehört zu haben. Der Lehrer wiederholt etwas ungeduldig die Frage, dadurch hat Maria Zeit gewonnen. Für sie selbst überraschend fallen ihr einige Details zu Luther, dem Bauernaufstand, den Wiedertäufern, der Rolle der Inquisition und dem Konflikt zwischen Papst und Kaiser sowie über die Lehensvergabe ein. Sogar die Jahreszahlen, die sie nennt, stimmen ungefähr. Marias Antwort ist nicht perfekt, aber das Mädchen strahlt Ruhe aus, obwohl auch ihr Herz rast, die Pupillen sich geweitet haben und die Muskeln angespannt sind. Mittlerweile ist ihre Stressreaktion allerdings bereits am Abflauen, denn sie hat die Situation für sich gerettet. Der Lehrer ergänzt noch schnell die Punkte, die Maria nicht erwähnt hat, und wendet sich zufrieden dem neuen Stoff der Stunde zu.
    Situationen wie diese gehören zum normalen Schulalltag. Marias Eltern werden sich über die gute Note ihrer Tochter bei der mündlichen Abfrage freuen, Guidos Eltern hingegen werden die Welt nicht mehr verstehen. Ihr Sohn lernt fleißig, weist beim Überprüfen des Gelernten zu Hause keine Lücken auf und versagt dennoch. Sind Maria und Guido unterschiedlich intelligent oder fähig, Wissen abzuspeichern? Nicht unbedingt, wahrscheinlich verfügen sie aber über eine verschieden ausgeprägte Stresskompetenz, die Fähigkeit, in belastenden Situationen entsprechend zu reagieren. Würden Guidos Eltern ihrem Sohn nach der misslungenen Abfrage Vorwürfe machen, seine Verzweiflung ignorieren, ihn gar bestrafen und drohen, dass beim nächsten Patzer das neue Fahrrad vom Weihnachtswunschzettel gestrichen würde, begingen sie einen großen Fehler. Sie würden den Druck auf das Kind nur noch erhöhen, ohne ihm zu helfen, mit der Herausforderung fertig zu werden. In der Folge würde die Situation für Kind und Eltern auf Dauer gleichermaßen enttäuschend wie prägend sein.
    Was aber geht in solchen Momenten im Kopf eines Guido oder einer Maria vor sich? Was passiert in ihren Körpern, wenn dieser unverhofft unter Stress gerät? Welche Kaskade biochemischer
Vorgänge läuft in einem Kind ab, wenn das Wissen von einer Sekunde auf die andere wie weggeblasen ist? Was genau sind Denkblockaden, und wie kann man lernen, mit Angst und Stress besser umzugehen?
Was ist Stress?
    Der Begriff »Stress« kommt aus dem Englischen und kann mit Druck oder Beanspruchung übersetzt werden. Er wurde 1936 von dem Mediziner und Biochemiker Hans Selye geprägt und bezeichnet eine Reaktionskette physiologischer Anpassungen an unspezifische innere und äußere Reize, die als »körperlicher Ausdruck einer allgemeinen Mobilmachung der Verteidigungskräfte im Organismus« (Selye) verstanden werden können. Verletzungen, emotionale Belastungen (z. B. Angst), Kampf- und Fluchtverhalten sowie Krankheiten aller Art lösen eine Stressreaktion aus. »Stress« kann sowohl eine Situation beschreiben als auch einen Zustand. Entsprechend unterscheidet die Stressforschung zwischen »Stressor« (die Situation, der Umstand oder Gedanke, der einem Menschen Stress bereitet) und dem Stress, den ein Mensch empfindet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass man Stress nicht auf einer objektivierbaren Skala darstellen kann. Stress hängt einzig und allein von der Bewertung eines jeden einzelnen Menschen ab. Dies gilt auch für Kinder: Nur sie allein können angeben, was ihnen Stress bereitet und was nicht. Längst nicht alles, was bei Eltern Stress verursacht, löst auch bei Kindern eine Überlastungsreaktion aus, und umgekehrt. Kinder können eine Situation als starke Belastung empfinden, etwa wenn sie sich alleine anziehen oder festgelegte Zeiten einhalten sollen, während Erwachsene noch nicht einmal ansatzweise daran denken, dass sie sich überfordert fühlen könnten. Aber man kann sich durchaus vorstellen, dass die Forderung des Chefs, in zwei Tagen eine komplexe Präsentation für den Vorstand zu erarbeiten, die über das Wohl oder Wehe eines Auftrags entscheiden kann, selbst einem Profi
einige Schweißtropfen auf die Stirn treibt. Allgemein gilt folgende Grundregel: Situationen, die Kinder nicht beeinflussen können, empfinden sie als stressiger als solche, auf die sie Einfluss nehmen können.
    Gibt eine stressige Situation Anlass zur Diskussion, gilt es immer die individuelle Perspektive des Handelnden einzubeziehen. Ein leichtfertig dahingesagtes »Das kann doch nicht so schwer sein!« einer Mutter, die entnervt die mühsamen Rechenbemühungen ihres

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