Wie Kinder heute lernen
Hörnerven zur anderen Seite hin kreuzen, ist es nicht verwunderlich, dass Forscher herausgefunden haben, dass Kleinkinder besser auf Sprache reagieren, wenn man in ihr rechtes Ohr spricht, auf Musik hingegen, wenn man in ihr linkes Ohr singt. Entsprechend lautet der Vorschlag für Eltern: Sprechen Sie Koseworte lieber ins rechte Ohr, und singen Sie »Gutenachtlieder« in das linke.
Sensible Phase für den Spracherwerb
Bis zu einem gewissen Grad ist die Sprachentwicklung also nichts anderes als die Konsequenz der Gehirnreifung, der Vernetzung von Wernicke- und Broca-Areal und der Feinabstimmung der Verbindungen zwischen ihnen. Aber auch Umwelterfahrungen prägen den Spracherwerb entscheidend. So wie beim Akt des Sehens die Schaltkreise der visuellen Wahrnehmung vervollständigt werden, sorgen Hören und Gebrauch von Sprache für die Feinabstimmung jedes Bestandteils im großen Netzwerk der Sprachverarbeitung im Gehirn. Und diese Verschaltungen können nur in einem bestimmten zeitlichen Fenster hergestellt werden: in der kritischen Phase oder sensiblen Periode.
Sogenannte Wolfskinder, die ohne sprachlichen oder kulturellen Einfluss aufgewachsen sind - etwa der berühmte, wenn auch umstrittene Fall des Kaspar Hauser - belegen, dass eine sensible Phase für die Sprachentwicklung existiert. Dies gilt vor allem für das Erlernen des Satzbaus (Grammatik) einer Sprache. Einzelne Wörter konnten auch Wolfskinder ganz gut lernen, wobei ihre Lauterzeugung stark beeinträchtigt war; eine richtige Grammatik entwickelten sie nie. Das kennt auch jeder, der eine Fremdsprache
erst nach dem zehnten Lebensjahr erlernt hat, und sich sicher daran erinnern kann, dass ihm die Grammatik und die Aussprache dabei die meisten Probleme bereiteten. Hier gilt, dass man zwar seinen Wortschatz ein Leben lang erweitern kann, aber die Fertigkeit, grammatikalische Regeln zu lernen, wird bereits im frühen Kindesalter festgelegt. Diese »Festlegung« ist im Gehirn wohl im Broca-Zentrum lokalisiert. Erlernt man eine Sprache erst nach dem zehnten Lebensjahr, werden die neuen grammatikalischen Regeln nicht mehr im Broca-Areal verarbeitet, sondern auf der anderen Hirnhemisphäre.
Studien an taubstummen Kindern haben wichtige Ergebnisse geliefert, was das Ende dieser sensiblen Phase der Sprachentwicklung betrifft, da sie oft erst sehr spät in Kontakt mit Gebärdensprache kommen und diese nicht richtig beherrschen, wenn sie sie nicht spätestens zwischen dem siebten und zehnten Lebensjahr erlernen. Sie haben gezeigt, dass die Veranlagung, Sprache zu lernen, danach bis zur Pubertät weiter rapide abnimmt. Das Sprachfenster ist geschlossen. Entsprechend sollte man die Hörfähigkeit von Kindern sehr bald kontrollieren lassen, um frühestmöglich eventuelle Hörschäden feststellen zu können.
Wie kommt es aber, dass ein junges Gehirn Sprache so viel besser lernt als ein älteres Gehirn nach der Pubertät? Gehirne lernen, indem sie ihre Synapsen und Dendriten umstrukturieren. In kindlichen Gehirnen erreichen die Synapsen ihre höchste Zahl zwischen dem zweiten und fünften Lebensjahr. In dieser Zeit haben sie die beste Möglichkeit, optimale Nervenbahnen für die Verarbeitung von Sprache auszuwählen. Diese ungeheure Plastizität des kindlichen Gehirns, d. h. seine strukturelle Anpassungsfähigkeit, zeigte sich auch an Kindern, denen die gesamte linke Hemisphäre entfernt werden musste (wie es bei manchen, sehr seltenen Erkrankungen üblich ist). Diese Kinder erlernten ihre Muttersprache mit der rechten Gehirnhälfte, die normalerweise sprachunbegabt ist.
Weltsprache oder Muttersprache?
Phoneme sind die kleinsten Lautbausteine einer Sprache, von denen jede Sprache etwa 40 hat. Babys können diese kleinsten sprachlichen Elemente bereits überraschend gut kategorisieren und erkennen. Und sie sind imstande, noch weitaus mehr sprachliche Laute wahrzunehmen, als ein Erwachsener dies kann. Sie sind sozusagen »Weltbürger«. So können japanische Babys den Unterschied zwischen l und r hören, während ihre Eltern diese Fähigkeit schon lange verloren haben. Bereits mit dem sechsten Lebensmonat beginnt diese Begabung aber zu schwinden, ab dem zehnten Monat haben dann die Phoneme unserer Muttersprache in der Sprachverarbeitung absolut Vorfahrt. Der Verlust, andere Phoneme zu hören als die, die um einen herum gesprochen werden, geht einher mit der wachsenden Sensibilität für die Muttersprache: Immer wenn ein Baby ein bestimmtes Phonem hört, erweitert diese
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