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Wie kommt das Salz ins Meer

Wie kommt das Salz ins Meer

Titel: Wie kommt das Salz ins Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Schwaiger
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Der zerkaute gelbe Gummiball bleibt da. Die Autodecke mit den Haaren. Die Leine.
    Muß die ganze Stadt dich hören? So weint man nicht einmal um einen Menschen! Das ist doch nicht der Hund, um den du heulst, du hast doch was. Rolf schlägt endlich zu, aber das, was ich habe, fällt nicht heraus. Es klebt irgendwo und wächst, die Haut gibt nach, es verhärtet sich, weil es noch mehr wachsen will, und es hat zuwenig Platz, drängt bis in die Zehen und Finger, und die Kleider werden mir zu eng, und die Haut, und ich möchte alles ausziehen und mich herausschälen. Es gibt Augenblicke, in denen es mich drängt, Gläser so anzufassen, daß sie zerbrechen, alles zu zerstampfen und zu zerschlagen und davonzulaufen, aber wohin, und ich unterdrücke das alles, solange die Haut sich dehnt. Ohne Haut wäre man verloren. Ohne Haut wäre man nicht anzusehen. Unerträglich, wenn jemand platzte und auf einmal ohne Haut wäre. Man würde alles erkennen. Wie oft hab ich alles gesagt und nicht gewußt, was ich da sage.
     
    Sonntags wird die Luft so zäh, daß Vögel mitten im Flug steckenbleiben. Der Fluß stockt unter der Brücke. Der Sonntag gehört den Menschen, die in geordneten Verhältnissen leben. Ich darf sonntags das Auto lenken, weil ich doch damals mit der Matura gleich den Führerschein machte. Matura und Führerschein, sagte mein Vater, ist wie Schreiben und Lesen. Rolf gibt Ratschläge, damit ich im Straßenverkehr ohne eigene Erfahrungen zurechtkomme, dann muß ich ihn ans Steuer lassen, weil er nervös wird, das Auto tut ihm leid, die Kupplung kracht jedesmal, wenn ich gefahren bin. Warum redest du nichts? fragt er. Er sagt, man kann die Landschaft betrachten und doch hin und wieder ein Wort sagen. Ich zünde seine Zigaretten an und gebe ihm die andere Brille, die aus dem Handschuhfach. Und wenn er bremst, stehen wir, und wenn er aufs Gas tritt, fahren wir. Was habe ich gegen das Normale? Einige Autos, die entgegenkommen, werden von Frauen gelenkt. Im Fahrtwind spüre ich, wie die Männer aufpassen.
    Wenn ich ohne Blitz über die Wiesen laufe, denke ich, daß ich mich nicht besiegen werden lasse von den Fratzen, die sich aufdrängen. Ich besichtige den Friedhof und lese alle Namen und fürchte mich nicht vor freigeschaufelten Gräbern, weil die Erde ja offen ist, um uns wieder aufzunehmen, und hier wächst ein Wind, der uns kleiden wird, und den Totenschädel tragen wir ja schon unter den Haaren.
    Sonntage mit Musik, aber bitte nicht diese Katzenmusik! Paganini macht keine Katzenmusik. Also gut, de gustibus non est, wie heißt das? Weißt du es nicht mehr? Cave canem! Sag, wie es heißt, sagt Rolf, ich möchte wissen, ob du wirklich alles vergessen hast. Über Geschmack läßt sich nicht streiten. Nein, auf lateinisch. Er memoriert mit mir: disputandum. Rolf weiß am heutigen Sonntag besonders viele lateinische Sätze, und die Straße unterm Fenster ist hart, ich müßte mich nur noch ein Stück weiter hinausbeugen, man ist nur einen Herzschlag vom Pflaster entfernt. Vergil war mit ein Greuel, sagt Rolf, aber Tacitus habe ich genossen.
     
    Großmutter sitzt gerettet auf dem Küchenstuhl, die Knie in warme Umschläge gewickelt. Ihr kann wirklich nichts mehr zustoßen. Das Kleid bis zum Hals zugeknöpft über dem Busen, der alle seine Pflichten erfüllt hat. Sie war immer ein anständiges Mädel, jeder mochte sie, sie war fleißig und freundlich, und der Großvater hat sie genommen, weil sie gut ins Geschäft gepaßt hat, und vor der Heirat hat die Großmutter einen Brief an die Tante geschrieben, mit der Bitte um Aufklärung. Die Tante hat ihr erklärt, wie das ist, und hat die Belehrung gegeben: Wenn der junge Stabsfeuerwerker ein anständiger Mensch ist und einen Besitz hat, dann laß dich gleich anschreiben. Sie hat es nie bereut, und Albert will seine Ehe nicht aufs Spiel setzen, man läßt sich doch nicht gleich scheiden. Warum streichelt er mich, während er das sagt? Es geht nicht ohne Lüge im Leben. Hat er das jetzt gesagt oder habe ich es gedacht? Nun redet Albert wie Rolf. Vater, Mutter, warum habt ihr mich auf das nicht vorbereitet? Warum habt ihr mir so viel verschwiegen? Warum schlägt er mich mit Worten und liegt nackt neben mir, und spricht von seiner Frau, zu der er innerlich wieder zurückfinden will, warum sagt er das mir, wie bildet man eine Kruste, damit keiner mehr in offene Wunden hineinsteigt, wie macht man es, es überhaupt nicht zu Wunden kommen zu lassen? Aufstehen, anziehen, Asche

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