Wie Krähen im Nebel
…»
«… sind Sie Prediger?»
Er hielt ihren hochmütigen Blick fest. «Nein! Aber ich möchte gern zu Ende sprechen, und ich möchte, dass Sie mir zuhören! Diese Frauen haben in Rattenlöchern ausgeharrt, und Sie brauchen nicht zu glauben, dass alle Schlampen sind, Donatella. Erinnern Sie sich, was Clara gesagt hat? Rattenlöcher räumt man nicht auf, hat sie gesagt! Wenn man anfängt Rattenlöcher aufzuräumen, bleibt man drin. Rattenlöcher muss man verlassen!»
Sie rührte in ihrem Kaffee, mechanisch.
«Sie wissen ganz genau, dass Sie verdammt Glück gehabt haben. Das wissen Sie doch, oder?»
Donatella stieß ihren Atem heftig aus, schüttelte mit halb geschlossenen Augen den Kopf. «Wissen Sie, wie Sie reden, Commissario? Sie reden genau wie Flavio. Und es stimmt ja,was Sie sagen. Ich weiß das doch alles. Aber ich habe ihn an diese Welt verloren! Er verachtet meine Herkunft. Ich glaube, er wünscht sich, dass ich ein vergewaltigtes Mädchen aus dem Osten wäre. Ein Mädchen, das er retten kann. Ich bin verdammt nicht Opfer genug, um wirklich von ihm geliebt zu werden! Mein Vater ist ein Conte, Besitzer eines Palazzo in Florenz und großer Ländereien in der Maremma.»
Guerrini seufzte.
«Welch tragisches Schicksal!», murmelte er.
«Machen Sie sich nicht über mich lustig!»
«Entschuldigung. Ich habe es nicht so gemeint. Ich kann mir vorstellen, dass ein junger, fanatischer Weltverbesserer Schuldgefühle hat, wenn er eine reiche junge Frau liebt. Das passt nicht in seine Denkstruktur. Weiß er es schon lange?»
«Was?»
«Dass Sie eine Contessa sind?»
«Er hat es vor zwei Monaten rausgefunden …»
«Und wie lange sind Sie schon zusammen?»
«Fünf Monate.»
«Dann haben Sie ihm die ganze Zeit etwas vorgemacht?»
Sie zerknüllte ein Zuckertütchen, zupfte so lange daran herum, bis es einen Riss bekam und sich die weißen Körnchen über den Tisch ergossen.
«Ich war so verliebt, fand seine radikale Art so anziehend. Und Sie können mir glauben, dass ich nicht nur seinetwegen auf Demos gegen die Globalisierung gegangen bin! Warum erzähle ich Ihnen das eigentlich alles?»
Guerrini zuckte die Achseln. «Vielleicht weil Sie mit jemandem darüber sprechen müssen und ich zufällig hier sitze und mich für Ihre Geschichte interessiere.»
Sie malte mit dem Finger einen Kreis in die Zuckerkrümel auf dem Resopaltisch.
«Sind Sie immer so sachlich?»
«Nein!», sagte Guerrini. «Ich weiß auch gar nicht, ob ich gerade besonders sachlich bin. Ich versuche zu verstehen, was hier vor sich geht, und ich denke inzwischen, dass dieser Fall nicht auf einer rein sachlichen Ebene zu klären ist. Wie hat Flavio reagiert, als er herausfand, dass Sie eine Adelige sind?»
Mit einer schnellen Bewegung wischte sie den Zucker vom Tisch. «Er hat gelacht. Richtig hysterisch gelacht und den Kopf geschüttelt, hat es nicht fassen können, und dann ist er eine ganze Nacht und einen Tag lang weggeblieben. Ich bin beinahe verrückt geworden … als er zurückkam, hat er mich um Verzeihung gebeten. Aber seitdem war unsere Beziehung anders … ich wusste, dass ich ihn verliere. Es war grauenvoll. Ich hab versucht zu reden, ihn zu überzeugen, dass es keine Rolle spielt … aber er hat mich angesehen wie ein Fremde. Und ich kann Ihnen eins sagen, Commissario: Ich hab mir immer wieder gewünscht, eine andere zu sein.»
Guerrini schüttelte den Kopf. «Das sollten Sie nicht, Donatella! Nicht aus solchen Gründen! Wenn er Sie nur unter bestimmten ideologischen Bedingungen liebt, dann können Sie ihn gleich vergessen.»
Sie atmete schwer, trank endlich einen Schluck von ihrem Kaffee, der längst kalt sein musste. Plötzlich lächelte sie kaum merklich. Zum ersten Mal, seit er sie kannte.
«Wollten Sie noch nie jemand anders sein, Commissario?»
Guerrini erwiderte ihr Lächeln, betrachtete dann seine Hände, fuhr sich übers Haar.
«Doch!», sagte er endlich. «Als ich jung war, wollte ich dauernd jemand anders sein. Ein Fußballstar von AC Mailand, der Mafiafahnder in einer Fernsehserie, die Sie nicht kennen können, weil Sie zu jung sind … in kurzen Momenten auch so jemand wie Che Guevara … aber inzwischen habe ich mich mit mir angefreundet.»
Sie lächelte noch immer. Guerrini bewunderte ihr dichtes lockiges Haar, die Form ihrer Augen und Lippen, dachte, dass dieser Flavio-Rinaldo ein ziemlicher Trottel sei. Wie übrigens alle Fanatiker in seinen Augen. Humorlose, lebensfeindliche
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