Wie Krähen im Nebel
junge Arzt lächelte kaum merklich. Er war groß, dunkelblond und trug eine Narbe im Gesicht, die sich von seiner Unterlippe bis zum Kinn zog. «Es fällt mir ohnehin schwer zu lügen», fügte er hinzu. «Ich meine, dass sie ihre Mutter behalten darf und all das. Ich wollte, sie könnte es. Aber solche Dinge sind in unserem System nicht vorgesehen …»
«Nein, das sind sie nicht …», murmelte Laura. «Ich weiß genau, was Sie meinen. Darf ich Sie noch um etwas bitten?»
Der Arzt nickte und zog fragend seine Augenbrauen hoch.
«Ich wäre froh, wenn Sie Rosl irgendwo unterbringen könnten, wo man gut mit ihr umgeht. Sie hat offensichtlich eine Art Verfolgungswahn entwickelt.»
«Ich werde es versuchen», antwortete der Arzt.
Laura gab ihm ihre Karte.
«Bitte sagen Sie mir Bescheid, wohin Sie Rosl gebracht haben. Ich muss mit ihr sprechen. Meinen Sie, dass ich ihr noch eine Frage stellen kann, ehe Sie sie mitnehmen?»
«Ist es wirklich wichtig?»
«Ja, das denke ich.»
«Wenn es wirklich wichtig ist, dann können Sie es versuchen. Ich werde ihr vor der Abfahrt eine Beruhigungsspritze geben. Gleich nach der Injektion sollten Sie Ihre Frage stellen. Was ist denn eigentlich passiert?»
«Das wissen wir auch nicht genau. Nur dass Rosl Meier niemand in die Wohnung lassen wollte und dass die alte Frau tot in ihrem Bett lag.»
«Auf den ersten Blick sieht es nicht nach Gewalteinwirkung aus», sagte der Arzt, «aber das kann natürlich nur durch eine Obduktion geklärt werden. Unter diesen Umständenwird die ja wohl angeordnet – trotz Sparprogramm, oder?»
«Natürlich», erwiderte Baumann. «Jedenfalls werden wir es versuchen. Dass jemand von oben diese Anweisung kippt, liegt allerdings durchaus im Bereich des Möglichen.»
Rosl sah dem Arzt entgegen, als der wieder ins Zimmer trat. Sah sein freundliches Lächeln und erstarrte, als er sich auf die Bettkante setzte. Rosl kannte ihn nicht. Ein undeutliches Gefühl sagte ihr, dass auch er zu denen gehörte, die hinter ihr her waren. Genau wie die draußen. Die taten nur so, als wären sie von der Polizei. Aber Rosl wusste auch, dass sie nichts gegen die ausrichten konnte. Es waren zu viele. Noch nie waren so viele Menschen in ihrer Wohnung gewesen. Wenn ihre Mutter noch leben würde, dann wären diese Fremden nicht in die Wohnung gekommen. Mutter hätte sie niemals hereingelassen.
Wellen von Angst liefen durch Rosls Körper, und sie presste die Tote fest an sich, wusste, dass sie jetzt allein war in dieser Welt. Die Angst war kalt, auch die Hand des Doktors auf ihrem Arm. Rosl wollte sie abschütteln, aber es war eh schon egal.
«Ich werde Ihnen jetzt eine Spritze geben.» Sie hörte diesen Satz, begriff ihn auch und dachte, dass auch das gut sei. Sie wollte gar nicht mehr leben in dieser fremden, kalten Welt. Er konnte sie ruhig umbringen. Mit einer Spritze tat es vielleicht nicht so weh wie mit einem Revolver oder einem Messer.
Sie spürte den Einstich, zuckte ein bisschen zu spät zusammen, und ihr wurde plötzlich heiß.
«Jetzt», sagte der Arzt.
Jetzt, dachte Rosl. So ist das also, wenn man stirbt. Ihr wurde noch heißer, und sie schloss ihre Augen.
«Frau Meier», sagte eine Frauenstimme. «Das mit Ihrer Mutter tut mir sehr Leid. Ich kann verstehen, dass Sie sehr traurig sind.»
Rosl konnte diese Stimme nicht mit der Spritze und ihrem Tod in Verbindung bringen, deshalb machte sie die Augen wieder auf. Aber sie sah Laura Gottberg nur verschwommen.
«Frau Meier! Es ist sehr wichtig, dass Sie meine Frage beantworten. Nur eine Frage: Warum haben Sie solche Angst, seit Sie die tote Frau im Eurocity gefunden haben?»
Rosl riss beide Augen weit auf und schnappte nach Luft. Woher wusste die das? Sie hatte es niemandem erzählt, nicht einmal ihrer Mutter. Wenn diese Frau es wusste, warum fragte sie dann? Warum?
«Hat man Sie bedroht oder verfolgt?»
«Er hat vor meiner Tür g’standen», flüsterte Rosl. «Und er hat die Bombe im Hauptbahnhof gelegt.»
«Wer?»
«Er war schwarz.»
Plötzlich drehte sich der ganze Raum um Rosl, das breite Ehebett verwandelte sich in ein Karussell. Ist gar nicht schlimm, das Sterben, dachte Rosl und legte sich in die Kissen zurück, versank in einem dunklen, leeren Raum und merkte nicht mehr, wie die beiden Sanitäter vorsichtig die tote alte Frau aus ihren Armen lösten.
«Wenn sie aufwacht, wird sie wissen, dass wir alle sie angelogen haben. Sie wird ihre Mutter vermutlich nie wieder sehen und
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