Wie Krähen im Nebel
Kontrolle geraten.»
«Kennen Sie den Mann, Natali?»
Sie schüttelte den Kopf, strich heftig über den Pelzmantel, griff zu schnell nach dem Glas Wasser, das der Kellner vor sie hinstellte, hätte es beinahe umgeworfen.
«Ich glaube Ihnen nicht! Es trifft Sie zu sehr. Er war nett. Ein etwas chaotischer, witziger, sogar ziemlich gut aussehender junger Mann. Er war Idealist, und das habe ich ihm zu 95 Prozent abgenommen.» Laura ließ Natali nicht aus den Augen, registrierte jede Regung ihres Gesichts, ihres Körpers. Die blasse Frau zog sich kaum merklich zusammen, krümmte sich ein wenig.
«Hat er auch Sie in Triest abgeholt? Auf dem Weg von Osten nach Westen?»
«Mich? Wie kommen Sie denn auf diese verrückte Idee? Ich war nie in Triest und auch nie in Florenz!» Sie versuchte sich wieder zu fassen, die alte Überlegenheit wiederzufinden.
«Ich glaube Ihnen nicht!»
«Ich Ihnen auch nicht!», gab Natali heftig zurück. «Es ist eine Falle! Er ist nicht tot! Das haben Sie sich einfallen lassen, um mich reinzulegen!»
«Glauben Sie das wirklich? Ich hatte bisher den Eindruck,dass Sie eine Frau sind, die sehr klar und eiskalt denken kann … sein Name ist übrigens Flavio, falls Sie das vergessen haben. Er hatte Angst, als ich ihn traf, meinte, dass er schon mehrmals verfolgt worden sei.»
«Ich kannte nur das Codewort und die Telefonnummer!», erwiderte die blasse Frau leise. «Wir kennen uns nicht, das ist Voraussetzung in der Kette.»
«Er hatte rote Haare, die bis in seinen Nacken reichten, und seidige rötliche Bartstoppeln – ungewöhnlich für einen Italiener. Und die Damen, die er gerade beschützte, wollten nicht, dass er Dinge erführe, die ihn vielleicht unglücklich machen könnten. Sie haben ihn hinausgeschickt wie ein Kind.»
Natali strich mit einer Hand über den glatten Holztisch, als wollte sie Krümel entfernen, ballte sie plötzlich zur Faust und sah zum ersten Mal wieder auf.
«Warum machen Sie das? Haben Sie solche Methoden in Ihren Psychologieschulungen gelernt?»
«Vielleicht.»
«Es funktioniert nicht, Frau Hauptkommissarin. Ich kannte ihn nicht. Und auch nicht die Verbindung zwischen Florenz und München. Aber jetzt würde ich sie gern kennen. Wenn die Kette unterbrochen ist, können wir keine Frauen mehr herausholen.»
«Beunruhigt Sie das aus geschäftlichen oder ideellen Gründen?»
Die blasse Frau hatte zu ihrem leicht verächtlichen Ton zurückgefunden.
«Aus beiden», erwiderte sie.
Nur die Haare, die sie aus ihrem Mantel gerissen hatte, verrieten, dass ihre Überlegenheit zerbrechlich sein könnte.
«Ich werde jetzt gehen!», murmelte sie und warf einen Zehn-Euro-Schein auf den Tisch.
«Warten Sie! Ich wollte Sie noch etwas fragen!»
Natali stand auf, griff nach ihrem Mantel.
«Ja?»
«Es gibt da einen jungen Mann, auf dem der Hauptverdacht lastet. Er liegt derzeit im Krankenhaus und behauptet, sein Gedächtnis verloren zu haben. Er ist blond – allerdings gefärbt – sehr hübsch, gebildet, vermutlich ebenfalls aus Florenz. Hat er eventuell etwas mit Ihrer Organisation zu tun? Oder arbeitet er für die Gegenseite?»
Natali drehte das Gesicht weg.
«Nein», sagte sie mit spröder Stimme, räusperte sich schnell. «Ich habe keine Ahnung, wer er ist. Kann ich jetzt gehen?»
Laura zuckte die Achseln. «Ich kann Sie nicht festhalten. Aber Sie haben ja inzwischen meine Handynummer. Vielleicht erinnern Sie sich doch noch an Flavio oder an irgendwas anderes. Dann können Sie mich ja anrufen.»
Die blasse Frau antwortete nicht, machte sich nicht einmal die Mühe, in ihren Mantel zu schlüpfen, warf ihn nur über die Schultern und war schon fort. Nur das kleine Büschel Kaninchenhaar blieb auf der Tischplatte zurück, ein angebissenes Weißbrot und das halbleere Wasserglas.
Als Laura um halb fünf ihre Wohnung betrat, hatte sie drei Besprechungen hinter sich, ein langes Telefonat mit Angelo Guerrini und fühlte sich wie von einem Lastwagen überfahren. Eigentlich hätte sie noch länger im Dezernat bleiben sollen, doch ihre Kopfschmerzen hatten zugenommen, und Claudia meinte, dass Laura Fieber hätte.
Die Wohnung war leer, die Luft verbraucht, und Laura fragte sich, warum niemand außer ihr jemals auf die Idee kam zu lüften. Zu müde, den Mantel auszuziehen, stand sieeine Weile mitten im Flur und wusste nicht, was sie tun sollte. Endlich ließ sie den Griff ihres Koffers los, ging in die Küche, um sich einen Tee zu machen.
Im Waschbecken türmten sich
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