Wie Krähen im Nebel
benutzte Teller und Töpfe, überhaupt herrschte ziemliches Chaos. Luca hatte offensichtlich größere Menüs zubereitet. Und es roch auch hier irgendwie abgestanden, nach Müll, der zu lange nicht ausgeleert wurde.
Seltsam, dachte Laura. Wie sich eine Wohnung verändern kann, wenn man zwei, drei Tage nicht zu Hause ist. Sie öffnete die Balkontür, um frische Luft hereinzulassen, trat hinaus und atmete tief ein. Es war schon beinahe dunkel, hatte zu schneien aufgehört, und der Nebel wurde wieder dichter. In den meisten Wohnungen der Nachbarhäuser brannten bereits Lichter, jemand warf unten im Hof Flaschen in den Container. Jedes Klirren schmerzte in Lauras Kopf.
Über den Dächern tauchten wieder die schwarzen Schatten auf, krächzende Schemen, und in einer schier endlosen Reihe zogen die Krähenschwärme über die Hausdächer hinweg. Ab und zu drang der Laut sausender Schwingen zu Laura herab, ein paar der schwarzen Vögel ließen sich für eine Weile auf den Fernsehantennen gegenüber nieder.
Laura kannte den Zug der Krähen. Morgens flogen sie zu den Müllplätzen hinaus, am Abend kehrten sie zu ihren Schlafbäumen im Englischen Garten zurück. Hunderte von Krähen schliefen in den kahlen Kronen eines Buchenwäldchens hinter dem Chinesischen Turm. Wie die unheilvollen Krähenschwärme aus dem Film von Hitchcock fielen sie Abend für Abend ein – saßen dicht an dicht in den Ästen, um sich zu wärmen – Emigranten aus dem Osten, Wintergäste, die im Frühjahr wieder nach Polen und Russland zurückkehrten.
Krähen im Nebel, dachte Laura. Diese verdammten Menschenhändlerund ihre menschliche Ware sind wie Krähen im Nebel. Lassen sich mal hier, mal da nieder, in Schwärmen. Bleiben, wo es was zu fressen gibt, und verschwinden dann wieder an den nächsten Ort. Was hatte sie bei ihren Recherchen gelesen … «Cluster» war der Fachbegriff für einen Sammelplatz der menschlichen Krähen. In einem Cluster entstanden in kürzester Zeit ganz viele Nachtclubs und Bordelle. In dem Report hatte man als Beispiel eine Kleinstadt in Portugal genannt, Braganca. Mit einem Nachtclub hatte es dort angefangen und mit brasilianischen Mädchen und Frauen, die von einem Menschenhändler eingeschleust wurden. Innerhalb von zwei Jahren lebten 300 Prostituierte in einem Ort mit 27 000 Einwohnern. Und die einheimischen Männer standen Schlange. Protest kam einzig von den Ehefrauen, deren Haushaltsgeld in die Taschen der Brasilianerinnen und ihrer Zuhälter wanderte.
Laura duckte sich ein bisschen, als fünf Krähen sehr dicht über ihren Balkon hinwegstrichen. Es gibt noch eine Ähnlichkeit zwischen Krähen und Menschenhändlern, dachte Laura. Sie breiten sich ganz ungeniert aus, doch sobald man die Aufmerksamkeit auf sie richtet, eine Kamera zum Beispiel, dann verschwinden sie, scheint es sie nicht mehr zu geben.
Sie dachte dabei an die Razzia der tschechischen Polizei vor ein paar Wochen. Man wollte Frauen aus sexueller Sklavenarbeit befreien, unterzog 4000 Zuhälter, Prostituierte und Kunden intensiven Verhören. Genau drei Frauen baten darum, nach Hause geschickt zu werden, und fünfzehn Männer wurden wegen des Verdachts auf Menschenhandel festgenommen. Wegen Verdachts, den man nicht nachweisen konnte. Und man fand auch heraus, warum. Die Frauen wurden mit mehr oder weniger subtilen Mitteln gefügig gemacht und sagten deshalb nicht gegen ihre Peiniger aus: Man fotografiertesie bei der Arbeit mit Freiern und drohte damit, die Bilder an die Familie zu Hause zu schicken. Oder man kündigte an, dass man der Mutter, der Schwester, dem kleinen Bruder etwas antun würde. Es gab auch die Drohung, dass man die Frauen an einen Mittelsmann zurückschicken werde, falls sie ihre Arbeit nicht ordentlich erledigten. Dieser Mittelsmann werde sie vergewaltigen, umbringen und irgendwo verscharren. Mindestens die Hälfte der Frauen aber hatte sich in diese Art von Abhängigkeit gefügt, weil sie zumindest materiell besser leben konnten als in ihren Ursprungsländern.
Massenprostitution sei immer ein Ergebnis von Armut und Chancenlosigkeit – so lautete das Fazit des Reports.
In diesem Augenblick auf dem Balkon im Nebel, während noch immer die krächzenden Krähen über sie hinwegzogen, verstärkten all diese Gedanken Lauras Kopfschmerzen. Sie kehrte in die Küche zurück, schluckte noch ein Aspirin und begann damit, das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen. Sie räumte immer auf, wenn in ihren Gedanken Unordnung
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